Die 2013 veröffentliche Anthologie zur polnischen Übersetzungstheorie, die von Piotr Bończ Bukowski und Magda Heydel herausgegeben und mit einer umfangreichen Einleitung versehen wurde, füllt in mehrerlei Hinsicht eine lange existierende Lücke. Das 360 Seiten starke Buch vereint fünfzehn zentrale polnische Positionen zur Übersetzungstheorie aus dem 20. Jahrhundert und schließt damit zu bestehenden Publikationen zur tschechischen, slowakischen oder russischen Translationswissenschaft auf. Es ist gewissermaßen als Fortsetzung zu der bereits 2009 von den beiden Herausgebern veröffentlichten Anthologie Współczesne teorie przekładu (Wydawnictwo Znak) zu verstehen, in der auf 600 Seiten wesentliche internationale Positionen der Übersetzungstheorie von Roman Jakobson, Paul Ricœur oder Hans-Georg Gadamer präsentiert werden. Die vorliegende Anthologie wird von den Herausgebern mit einem rund 30 Seiten starken Vorwort eingeleitet, das zugleich Orientierung und Vorgabe ist. Dabei wird der Leser mit zentralen Begrifflichkeiten der einzelnen Ansätze vertraut gemacht. Gleichzeitig skizzieren die beiden Herausgeber die Geschichte der polnischen Übersetzungstheorie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und liefern zentrale Positionen der polnischen Translationswissenschaft.
Eine polnische Übersetzungstheorie konnte sich, ungeachtet der vorliegenden Beiträge, nicht als eigenständige Schule etablieren oder – wie etwa im Falle tschechischer oder slowakischer Theoretiker (vgl. etwa Jiří Levý oder Anton Popovič) – über engere Grenzen hinaus einen Namen machen. Der vorliegende Band zeigt aber, zu welch wichtigen Beiträgen es auch vonseiten polnischer Theoretiker kam, die sich dabei im Vergleich zu westeuropäischen Ansätzen jener Zeit als durchaus innovativ erweisen (Inhaltsverzeichnis s. u.). 1957 erschien eine erste synthetisierende Monographie, der Wstęp do teorii tłumaczenia von Olgierd Wojtasiewicz. Bereits zuvor erschienen mit Artikeln von Bronisław Malinowski (1935) und Zenon Klemensiewicz (1955) – seines Zeichens Sprachwissenschaftler – zwei wichtige und richtungsweisende Artikel. Wojtasiewicz widmete sich in seiner Arbeit neben pragmatischen Aspekten besonders der Frage der Übersetzbarkeit zwischen Systemen (S. 12). Dabei sah er kulturelle Differenzen als wesentliches Hindernis bei übersetzerischen Vorgängen, womit er sich von der zu jener Zeit in Westeuropa vorherrschenden, vorwiegend innersprachlich orientierten Übersetzungstheorie absetzte. Wojtasiewicz verweist dabei nicht ohne Grund auf die bahnbrechende Arbeit von Andrej Fёderov (Vvedenie v teoriju perevoda, Moskva 1953), die außerhalb des sozialistischen Lagers erst in letzter Zeit intensiver rezipiert wird. [1]
Auf diese ersten grundlegenden Arbeiten folgte in den 1960er-Jahren eine Reihe weiterer Beiträge, die dem Strukturalismus zuzuordnen sind, unter ihnen Anna Wierzbicka, Jerzy Ziomek und Edward Balcerzan. Diese Phase polnischer Theoretiker zeichnet sich durch eine Ausweitung und Vertiefung der Standpunkte aus. Insbesondere Balcerzans Beitrag (Poetyka przekładu artystycznego, 1968) stellte einen weiteren wichtigen Ansatz dar, der für spätere Generationen von zentraler Bedeutung sein sollte. In ihm wird Translation auf eine deutlich breitere Basis gestellt, als dies noch zuvor der Fall war. In den folgenden Jahren waren es besonders Stanisław Barańczak, Jerzy Kmita, Jerzy Święch und Zbigniew Osiński, die diese Gedanken aufnahmen und weiterentwickelten und in Poznań und Kraków wirkten. Besonders mit Barańczak treten wieder vermehrt stilistische Fragen in den Vordergrund. Stefania Skwarczyńska widmet sich in ihrem weitblickenden Artikel (1973) der Frage der Stellung von Übersetzungen im Verhältnis zur nationalen Literatur. Einen Schritt weiter geht Anna Wierzbicka mit ihrer Natural Semantic Metalanguage (1972) und der Frage, inwieweit es eine über einzelne Sprachen hinweg verbindende Metasprache gibt. Die 1960er und 1970er-Jahre waren eine Zeit, in der sich in Polen die Translationswissenschaft auch institutionell etablieren konnte. Erwähnt seien an dieser Stelle die Aktivitäten von Zygmunt Grosbart in Łódź sowie das Instytut Lingwistyki Stosowanej der Jagiellonen-Universität in Kraków um Franciszek Grucza. Aus den folgenden Jahren sind eine Reihe wichtiger Arbeiten zu erwähnen, die als Fragmente Eingang in die Anthologie gefunden haben, darunter Anna Legeżyńskas Arbeit Tłumacz i jego kompetencje autorskie, in der die Autorin der These nachgeht, ob eine Übersetzung immer eine Zusammenarbeit zwischen Autor und Übersetzer darstellt. Von Bedeutung sind ferner die Beiträge von Stanisław Barańczak, die gesammelt 1992 als Ocalone w tłumaczeniu erschienen.
Während über lange Zeit stilistische und strukturalistische Ansätze innerhalb der polnischen Translationswissenschaft dominierten, kam es Anfang der 1990er Jahre zu den ersten gesellschaftstheoretischen Ansätzen, darunter ist Roman Lewicki und seine Arbeit Konotacja a przekład aus dem Jahr 1993 zu erwähnen. Lewicki geht der Frage von Übersetzungen und ihrer Bedeutung in der Gesellschaft nach. Inwieweit stehen übersetzte Werke gegenüber Originalen beim Adressaten in einem Widerspruch? Elżbieta Tabakowska hingegen geht in ihrem einflussreichen Werk (vgl. u. a Cognitive Linguistics and the Poetics of Translation, 1993, poln. Übersetzung als Językoznawstwo kognitywne a poetyka przekładu, 2001) der Frage von Äquivalenz auf der Ebene von Bilden und Darstellungen nach, durch die ein jeder Text geprägt wird.
In den 1990er-Jahren wächst auch die Anzahl an verschiedenen translationswissenschaftloich ausgerichteten Periodika. Zu erwähnen ist die seit 1995 existierende Reihe Między oryginałem a Przekładem unter der Leitung von Jadwiga Konieczna-Twardzikowa oder Studia o Przekładzie, die von Piotr Fast herausgegeben werden.
Schließlich sind einige Beiträge zu erwähnen, die Translation unter einem philosophischen (Tadeusz Sławek), einem semiotischen (Seweryn Wysłouch) oder einem kulturwissenschaftlichen Aspekt (Roman Lewicki) betrachten. Während die eigentliche Anthologie damit abschließt, werden die Leser im Vorwort noch mit einer Reihe weiterer Positionen bekanntgemacht, die zeigen, dass es auch in der polnischen Translationswissenschaft in den letzten Jahren zu bedeutenden Arbeiten kam.
Die Sammlung wird mit einer rund zwanzig Seiten umfassenden Bibliografie abgeschlossen, die die wichtigsten polnischsprachigen Positionen vereint. Es folgen Informationen zu den Autoren der Texte, Quellenangaben und ein Index.
Die vorliegende Anthologie, so der erklärte Wunsch der Herausgeber, soll die wichtigsten Etappen der polnischen Übersetzungstheorie von ihren Anfängen um die Mitte des 20. Jahrhunderts bis zu Beginn des 21. Jahrhunderts dokumentieren. Die Auswahl ist unter diesem Aspekt als ausgewogen zu sehen, auch wenn die eine oder andere Ergänzung anzuführen ist. Übersetzungstheorie wird hier im Allgemeinen als eine positive, gleichsam unideologische kulturelle Tätigkeit gesehen. Von Interesse wären in diesem Zusammenhang jene, sicherlich nicht unproblematischen Ansätze von offizieller staatlicher Seite, die in der Zeit der kommunistischen Volksrepublik entstanden. Dies erscheint umso wichtiger, als Übersetzungen auch in Volkspolen eine wichtige Rolle einnahmen. So waren noch bis zu Beginn der 1950er-Jahre rund 25 % der gesamten Buchproduktion Übersetzungen, die – und das musste auch einen Niederschlag in der Übersetzungstheorie finden – vorwiegend aus dem Russischen erstellt wurden. [2] Erst in der Zeit danach tritt der Anteil des Russischen zugunsten anderer Sprachen auf weniger als 10% zurück.
Allgemein ist das Wechselspiel zwischen reiner Theorie und herrschender Ideologie deutlich mehr zu beachten. So kam, wohl nicht nur in einem kommunistischen Umfeld, dort aber besonders, theoretischen Vorgaben nur eine beschränkte Bedeutung in der praktischen Umsetzung zu. Als ,marxistische' oder ,kommunistische' Beiträge zu einer Übersetzungstheorie sind somit auch jene Ansätze von offizieller Seite miteinzubeziehen, die sich auf das Thema der Übersetzung beziehen und etwa, wie im Falle der Zensur der PRL [3], konkrete Handlungsanweisungen darstellen. [4]
[1] Neben englischen Werken (John P. Postgate, Alexander Fraser Tytler Woodhouselee) zitiert Wojtasiewicz auch die Arbeit Posobie po perevodu s russkogo na francuzkij (Moskva 1952) von L. N. Sobolev.
[2] Vgl. dazu im Detail Ruch wydawniczy w liczbach 1944-1973. Zestawienie retrospektywne. Biblioteka Narodowa – Instytut Bibliograficzny.
[3] Dabei handelte es sich um das Główny urząd kontroli prasy, publikacji i widowisk (dt. Hauptamt für die Kontrolle von Presse, Veröffentlichungen und Schauspiel), das bereits 1946 installiert wurde und als oberste Zensurstelle über alle entsprechenden Vorgänge waltete
[4] Vgl. dazu etwa den Klassiker von Tomasz Strzyżewski Czarna ksіega Cenzury PRL (London 1977) bzw. die umfangreiche Arbeit Cenzura a nauka historyczna w Polsce 1944-1970 (Warszawa 2010) von Zbigniew Romek.