Von Polen her Europa denken, heißt, die Koordinaten, die wir uns für diesen Kontinent zurecht gelegt hatten, zu „osten": Denn nach Jahrhunderten der Zerschlagung und 75 Jahre nach dem Hitler-Stalin-Pakt ist Polen heute in Europa angekommen und erzählt aus seiner Vergangenheit erstaunliche Geschichten von einem künftigen Europa. In ihren lebensgeschichtlichen Interviews, die sie kreuz und quer durch Polen führten, nehmen die Autoren den Leser mit auf eine Reise in die Zukunft Europas. Wie bereits in ihrem ersten Band mit 10 Pariser Gesprächen, so liefern sie damit auch diesmal ein besonderes Stück lebendige Zeitgeschichte – inklusive einer Perspektive auf ein Europa der Bürgerinnen und Bürger.
Ronald Hirte, Fritz von Klinggräff (Hg.) (2015)
Von Polen her. Europa denken – Gespräche über Europa in Polen
- Published: 19.02.2015
-
Recommended by Dorothea Traupe
-
Von Polen her. Europa denken - Gespräche über Europa in Polen
Reviewed by Dr. Hans-Christian Dahlmann
- Published: 18.09.2015
-
Reviewed by
Dr. Hans-Christian Dahlmann
-
Edited by
M.A. Joanna Jurkiewicz
Roland Hirte und Fritz von Klinggräff haben sich für das vorliegende Buch auf den Weg nach Polen gemacht und 25 Personen aus drei Generationen zur Zeitgeschichte befragt. Ausgangspunkt ihrer Gespräche ist die Frage nach einer gemeinsamen europäischen Zukunft aus polnischer Perspektive. Diese Frage steht allerdings längst nicht bei allen Interviews im Mittelpunkt und in manchen Gesprächen kommt sie gar nicht vor. Der Buchtitel ist daher etwas irreführend. Entstanden ist weniger ein Interviewband über die europäische Idee, als vielmehr ein Lesebuch über Polen, welches sehr facettenreich und lesenswert ist.
Neben der Frage nach Europa gibt es zahlreiche andere Grundlinien, die sich durch das gesamte Buch ziehen. Zum einen geht es darum, wie in Polen Geschichte erinnert wird. Thematisiert werden dabei die Vergangenheit des Zweiten Weltkriegs, die polnisch-jüdische Geschichte und die Zeit der Volksrepublik Polen, über deren Alltag man einiges erfährt. Es geht aber auch immer wieder um die persönlichen Familienerinnerungen der Gesprächspartner. Ein weiterer Themenstrang des Buches ist das deutsche Polenbild.
Der Schriftsteller Stefan Chwin beklagt, dass es auf deutscher Seite immer noch viel Ignoranz und Unwissenheit gebe, was schon bei der Geographie Osteuropas anfange. Hierin stimmt mit ihm auch die Autorin Zofia Posmysz überein. Sie zeigt sich erschrocken darüber, dass deutsche Jugendliche so wenig über polnische Geschichte wissen (S. 69). Chwin klagt, noch immer begegne er deutschen Aktivisten und Politikern, die den Polen Demokratie beibringen wollten. Dagegen habe man vergessen, dass das Ende des Kommunismus die Folge einer Entwicklung gewesen sei, die ihren Anfang mit der Solidarność in Polen und nicht mit dem Fall der Berliner Mauer genommen habe. Viele Menschen hätten den Eindruck, Deutschland habe Polen die europäische Geschichte geraubt (S. 184). Chwins Kritik an der deutschen Sicht auf Polen ist durchaus berechtigt. Trotz aller Fortschritte ist das deutsch-polnische Verhältnis immer noch asymmetrisch. Doch das Ende des Kommunismus vor allem als Folge der polnischen Oppositionsbewegung zu sehen und die ökonomischen Verhältnisse in der Sowjetunion zu übergehen, ist ebenso vereinfachend.
Zwei Gespräche sind besonders geeignet, um die Informationsdefizite auf deutscher Seite zu beheben. Zu Wort kommen die Journalisten Adam Krzemiński und Basil Kerski, beide ausgezeichnete Experten, um Deutschen Polen zu erklären. Kerski äußert sich zum Transformationsprozess Polens nach 1989 und zu der Frage, ob Polen erfolgreich einen Aufholprozess durchlaufen habe. Er kommt allerdings zu dem Schluss, dass Polen nicht einfach eine nachholende Modernisierung durchlief, sondern längst eine eigene Entwicklung eingeschlagen habe (S. 189-190).
Adam Krzemiński geht auf einen weiteren Aspekt der innenpolitischen Situation Polens ein. Er legt knapp und präzise dar, wie tiefgreifend das national- und das liberalkonservative Lager in Polen zerstritten sind; eine Spaltung, die nach dem Flugzeugunglück von Smoleńsk 2010 vertieft wurde, weil ein Teil der Bevölkerung an die Verschwörungstheorie eines Attentats glaubt (S. 124).
Die beiden Autoren kommen auch auf die „Dauerbrenner" Antisemitismus und Russlandfeindlichkeit zu sprechen, zwei Phänomene, die in Deutschland immer wieder mit Polen assoziiert werden. Adam Krzemiński wehrt sich dagegen, Polen als russophob einzustufen: Von einer endemischen Russlandfeindlichkeit könne man nicht sprechen. Trotz großer Differenzen in der politischen Kultur gebe es auch gewisse Affinitäten zwischen den beiden Ländern (S. 118). Basil Kerski erläutert in wenigen Worten sehr zutreffend, dass Polen nicht auf den Antisemitismus reduziert werden könne. Dabei tappt er keineswegs in die Falle, diesen Problempunkt zu bagatellisieren. Zur Begründung verweist er unter anderem auf die Debatten zu jüdischen Themen, die in Polen bereits in den 1980er Jahren geführt wurden (S. 191-194). In diesem Kontext fragen die Herausgeber Krzemiński auch nach den polnischen Nationalisten, die alljährlich am Nationalfeiertag auf die Straße gehen. Der Analytiker Krzemiński merkt hierzu an, diese seien eine Randgruppe; ihm mache vor allem Sorge, dass die Liberalkonservativen keine frontale gedankliche Auseinandersetzung mit den Nationalkonservativen suchten (S. 130).
In dem Band wird nicht nur das deutsche Polenbild diskutiert, auch Diskurse in Polen werden hinterfragt. Der Historiker Włodzimierz Borodziej ist bekannt für seine kritische Sicht auf die in Polen betriebene Geschichtspolitik. Er bemängelt im Interview die Heldengeschichtsschreibung im Museum des Warschauer Aufstands. Die dortige Ausstellung solle die Geschichte vor allem jungen Menschen näherbringen, sei aber so kraftvoll inszeniert, dass ein 28-jähriger Portugiese nach dem Museumsbesuch fragte, wer denn eigentlich gewonnen habe. Die politische Rechte versuche auf diese Weise ihre Narrative durchzusetzen. Borodziej geht auch kurz auf das Institut für nationales Gedenken (IPN) ein: Dies sei ab 2004 völlig ins rechte Lager abgedriftet, sei heute aber wieder halbwegs ausgewogen (S. 333-335).
Mit den Herausgebern haben sich keine ausgezeichneten Polenexperten ans Werk gemacht. Ronald Hirte arbeitet als Historiker an der Gedenkstätte Buchenwald. Fritz von Klinggräff ist Journalist in Genf. Beide haben bereits einen Interviewband herausgegeben, für den sie mit ehemaligen Häftlingen des KZ-Buchenwald sprachen.
Für das vorliegende Buch haben sie sich intensiv mit Polen beschäftigt. Bei der Lektüre fällt vor allem die große Wertschätzung der Autoren gegenüber Polen auf. Dies allein mag man noch nicht als Qualitätsmerkmal sehen. Doch gerade dadurch geben sie Überlegungen Raum, die in anderen Publikationen zu kurz kommen.
Ihren Interviewpartnern stellen die Herausgeber viele interessante, aber auch einige absurde Fragen. So beklagt der Regisseur Krzysztof Warlikowski, immer mehr Lehrer ließen ihre Schüler den Warschauer Aufstand nachstellen. Diese „Heldengeschichtsschreibung von unten", die als das Pendant zum Museum des Warschauer Aufstands verstanden werden kann, sei groß in Mode. Die Herausgeber verfolgen jedoch diesen Aspekt nicht weiter und konzentrieren sich stattdessen auf die Frage, ob das Nachstellen historischer Ereignisse in einer besonderen Tradition des polnischen Theaters stehe (S. 273-274). Auch an anderen Stellen des Gesprächsbandes blitzen kluge Gedanken auf, die leider nicht genügend weiterverfolgt werden.
Die Auswahl der Gesprächspartner hat alles andere als repräsentativen Charakter. Der Leiter des Museums des Warschauer Aufstands, Paweł Ukielski, fragte die Herausgeber skeptisch, wo denn die andere Hälfte Polens vertreten sei: die nationalkonservative Sicht (S. 211). Neben Ukielski wird diese im vorliegenden Band nur noch von Marek Cichocki vertreten.
Doch hierin liegt die Stärke des Buches, da viele Personen zu Wort kommen, die zwar nur für einen verschwindend kleinen Teil der polnischen Bevölkerung sprechen, aber die zur intellektuellen Debatte umso mehr beizutragen haben. Am meisten gilt dies vielleicht für Elżbieta Janicka, die zusammen mit Wojciech Wilczyk einen eigenen Beitrag für den Anhang des Buches beigesteuert hat. Sie haben in den letzten Jahren das Gebiet des ehemaligen Warschauer Ghettos fotografisch dokumentiert und wollen zeigen, wie die Erinnerung an die Warschauer Juden an diesem Ort heute überschrieben wird.
Die behandelten Themen und die Fragen der Herausgeber enthalten häufig kaum substantiell Neues. Man stößt bei der Lektüre jedoch immer wieder auf gute Analysen und konzise Überlegungen. Durch die vielen versammelten Perspektiven ist ein breites und lesenswertes Panorama entstanden. Eine besondere Stärke sind dabei die persönlichen Erinnerungen der Gesprächspartner. Etwa wenn Lucyna Tych davon berichtet, wie die Warschauer Bürger nach dem Krieg massenweise ihre Altstadt besuchten, um sich den Wiederaufbau anzuschauen (S. 257). Oder wenn sich Andrzej Wirt an den ersten Besuch von Bertolt Brecht und seinem Berliner Ensemble in Polen im Jahre 1952 erinnert (S. 261). Das Buch ist daher sowohl Polenkennern zu empfehlen, als auch Menschen, die erst anfangen, sich näher mit Polen zu beschäftigen.
Liste der Gesprächspartner: Danuta Brzosko-Mędryk, Kazimierz Albin und Zofia Posmysz
Paula Sawicka, Michał Sobelman, Adam Krzemiński, Andrzej Piotrowski, Joanna Zętar, Arek Ziętek und Michał Wolny, Andrzej Urbański und Jerzy Tyburski, Stefan Chwin, Basil Kerski, Marek Cichocki, Paweł Ukielski, Barbara Kirshenblatt-Gimblett, Adam Rotfeld, Lucyna Tych, Andrzej Wirth, Krzysztof Warlikowski, Katarzyna Wodarska-Ogidel, Agnieszka Lessmann, Ludwika Włodek, Włodzimierz Borodziej.