Es ist ein Ereignis, das sich den gängigen Periodisierungsmustern der Holocaustforschung entzieht: die Totalvernichtung der jüdischen Gemeinde Ostrów Mazowieckas im November 1939. Denn der Übergang zur systematischen Ermordung jüdischer Männer, Frauen und Kinder wird in der Regel mit dem Überfall auf die Sowjetunion im Sommer 1941 verknüpft. Mehr oder weniger deutlich setzt die Forschung hiervon die deutsche Besatzungsherrschaft in Polen in den Jahren 1939 bis 1941 ab. Zwar wird auch diese mittlerweile mit vielfältigen Gewaltprojekten identifiziert, die in unterschiedlichem Maße bereits auf die Phase ab 1941 verweisen. Doch erst der Gewaltschub der „Operation Barbarossa“, so lassen sich die Arbeiten der letzten Jahre nur wenig vereinfachend summieren, etablierte die Ermordung ganzer jüdischer Gemeinden zur alltäglichen Praxis deutscher Judenpolitik.
Der Fall Ostrów Mazowiecka liegt also offenkundig quer zu diesen Deutungen und wirft eine Reihe von Fragen auf: Wie konnte es etwa zu einem vergleichsweise frühen Zeitpunkt zur vollständigen Auslöschung einer jüdischen Gemeinde kommen? Und wie sind diese Ereignisse innerhalb des größeren Gesamtzusammenhangs nationalsozialistischer Judenpolitik zu verorten?
Diesen Fragen gehen Markus Roth und Annalena Schmidt in ihrer schlanken, sehr gut lesbaren Studie nach. Sie nehmen dabei nicht nur die Ausübung massenhafter Gewalt in den Blick, sondern widmen sich auch der Aufarbeitung des Massakers durch die bundesrepublikanische Justiz. Dazu haben Roth und Schmidt sämtliches zur Verfügung stehendes Quellenmaterial zusammengezogen. Zeitgenössische Quellen sind jedoch kaum überliefert, so dass sich die Studie im Kern auf die Erinnerung von Überlebenden und die Akten der bundesdeutschen Justiz stützt. Es gelingt ihnen dabei vorzüglich, Opfer- und Täterperspektive zu einem überzeugenden, chronologisch strukturiertem Narrativ zu verweben.
Der deutsche Überfall auf Polen war, so der zeithistorische Konsens, in doppelter Hinsicht ein Radikalisierungsfaktor: Zum einen verschoben sich infolge der Konfrontation mit etwa zwei Millionen besonders verachteter „Ostjuden“ die Parameter der NS-Judenpolitik. Die bislang im „Altreich“ verfolgte Strategie der erzwungenen Ausreise wurde abgelöst durch gewaltsame, immer umfassendere Vertreibungsprojekte. Diese verbanden sich stets mit der Anwendung massiver Gewalt, blieben jedoch unterhalb der Schwelle des systematischen Massenmords.
Zum anderen öffneten sich im besetzen Polen ganz neue Möglichkeiten zum Ausagieren von Gewalt, die von Männern und Frauen mit unterschiedlichem biographischen Hintergrund und institutioneller Zugehörigkeit genutzt wurden. Die Zone erlaubter Gewalt, so lässt sich pointiert formulieren, wurde im besetzen Polen deutlich ausgedehnt: Hier war erlaubt, was andernorts (insbesondere im „Altreich) verboten war. Vor diesem Hintergrund kann auch der Fall Ostrów etwas präziser verortet werden: Er fügte sich nicht (oder wenigstens nicht zur Gänze) in die Logik der Vertreibungsprojekte, entsprach aber (zumindest im Kern) der Logik der neu geöffneten Möglichkeitsräume.
Umsichtig rekonstruieren Roth und Schmidt den unmittelbaren Kontext des Massakers. In Ostrów Mazowiecka brach am 9. November 1939 aus ungeklärten Gründen ein Feuer aus. Ganze Häuserblocks im Zentrum der Stadt brannten nieder. Das Feuer verzahnte sich mit einem Bedrohungsszenario, das die deutsche Zivilverwaltung in den Tagen und Wochen zuvor konstruiert hatte. So sei die deutsche Herrschaft keineswegs gefestigt, es seien kaum Polizisten vor Ort und die anhaltenden Flüchtlingsströme seien zunehmend unkontrollierbar. In dieser Konstellation schien das Feuer alle Befürchtungen zu bestätigen. Ohne eine Untersuchung der Brandursache anzustrengen, meldete der deutsche Kreishauptmann das Feuer nach Warschau und machte die Ostrower Juden verantwortlich.
Der Entscheidungsprozess zur Totalvernichtung der jüdischen Gemeinde kann nicht mehr mit letzter Sicherheit rekonstruiert werden. Roth und Schmidt sind hier auf notorisch unzuverlässige Nachkriegsaussagen der Täter angewiesen, die in der Regel versuchten, sich mit Schutzbehauptungen aus der Schusslinie zu bringen. Insofern ist zumindest nicht nachprüfbar, ob es tatsächlich der HSSPF Friedrich-Wilhelm Krüger war, der dem Kommandeur des Polizeiregiments Warschau den Auftrag gab, die Ostrower Juden zu erschießen.
Fest steht, dass es die Männer des Warschauer Polizeibataillons 91 waren, die am 11. November 1939 die jüdische Gemeinde von Ostrów Mazowiecka ermordeten.
In ihrer detaillierten Analyse des Massakers gelingt es Roth und Schmidt, auf eine Reihe von Aspekten aufmerksam zu machen, die von übergreifender Bedeutung sind. Erstens können sie zeigen, dass Massenmord für die eingesetzten Polizisten noch keine Routine war. Insbesondere bei der Ermordung von Frauen und Kindern mussten Gewalthemmungen überwunden werden: Arbeitsteiliges Vorgehen, Alkoholkonsum und das energische Handeln von Vorgesetzen scheinen hier ausschlaggebend gewesen zu sein.
Zweitens illustrieren die Autoren die spezifische Situation des Massakers, die offen ist für überschießende Gewalt, Brutalität und Grausamkeit. Drittens bieten Roth und Schmidt wichtige Einblicke in das extrem gewalttätige deutsche Besatzermilieu, in dem die Ausübung von Gewalt gegen „Fremdvölkische“ etwas ganz und gar Selbstverständliches war und über die Kreise des SS- und Polizeiapparates hinaus öffentlich diskutiert und gefordert wurde. Als eines der Schwungräder des Massaker in Ostrów Mazowiecka identifizieren Roth und Schmidt einen Mitarbeiter des Technischen Hilfswerks, der aus Interesse mit dem Polizeibataillon 91 aus Warschau angereist war: Er feuerte die Schützen immer wieder an (ohne weisungsbefugt zu sein), fotografierte die Erschießungen, hielt ideologische Brandreden und schoss wohl auch selber mit. Dessen Interesse und die Neugier verdeutlichen aber auch, dass systematische Erschießungen eben noch nicht zum Alltag gehörten.
Insgesamt ermordeten die Polizisten an diesem Tag wohl etwa 500 Männer, Frauen und Kinder.
Es war die erste Totalvernichtung einer jüdischen Gemeinde im deutsch besetzten Herrschaftsraum. Souverän entgehen Roth und Schmidt der Gefahr, aus der Analyse dieses Massakers allzu weitreichende Schlüsse zu ziehen: Mehrfach betonen sie zu Recht, dass der Fall Ostrów nicht „zu einem grundsätzlich neuen Verständnis der Entscheidungsabläufe und Eskalationsstufen bei der Ermordung der Juden im deutschen Herrschaftsbereich [führt]“ [S. 126.]. Keineswegs handele es sich um „de[n] Beginn einer unmittelbar einsetzenden Brutalisierung und Eskalation der ‚Judenpolitik' in den besetzten Gebieten“ [Ebd.]. Das ist sicherlich richtig und lässt sich mühelos nachweisen.
Doch hatte „Ostrów“ dann irgendeine Bedeutung, die über den lokalen Kontext hinausweist? Roth und Schmidt argumentieren hier sehr vorsichtig und deuten „Ostrów“ etwas vage als einen „Faktor, der die mentale Hemmschwelle ein wenig eingeebnet hat“ [S. 127]. Da das Massaker keinerlei Sanktionen nach sich zog, habe es die Grenzen des Denk- und Machbaren verschoben. Dies gelte sowohl für die Führungsspitze, für die eine Totalvernichtung fortan „als reale Möglichkeit in den Köpfen“ [S. 126] war, als auch für die eingesetzten Männer, die eine ganze jüdische Gemeinde ermordet hatten. So plausibel das klingt, so sehr bleibt es doch Spekulation, da die Autoren ihre Thesen nicht durch Quellen stützen können. Einmal mehr zeigt sich, dass die Analyse der Tradierung von Gewalterfahrung ein überaus komplexer Gegenstand ist.
Im zweiten Teil ihres Buches bieten Roth und Schmidt eine dichte Analyse der juristischen Aufarbeitung des Massenmords. Ausführlich thematisieren Sie die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen, sezieren den aufsehenerregenden Prozess vor dem Gießener Landgericht im Jahre 1962 und analysieren die Berichterstattung der lokalen, nationalen und internationalen Presse. War die Totalvernichtung der jüdischen Gemeinde Ostrów Mazowieckas in der Tat ein außergewöhnliches Ereignis, so verlief die juristische Ahndung in geradezu klassischen Bahnen. Wie durch ein Brennglas treten hier noch einmal alle Probleme der NS-Prozesse gebündelt vor Augen: der Mangel an belastenden zeitgenössischen Dokumenten; das Schweigekartell im Milieu der Täter und Mittäter; die Zeugenabsprachen und Leugnungsstrategien; schließlich: die Gehilfenjudikatur mit ihren skandalös niedrigen Urteilen.
All das ist nicht neu, und dennoch gelingt Roth und Schmidt auch hier eine anregende Analyse.
Insgesamt haben Roth und Schmidt eine mustergültige, gut lesbare Studie vorgelegt. Erstmals liegt somit eine Analyse der ersten Totalvernichtung einer jüdischen Gemeinde vor, die unser Verständnis des Holocaust zwar nicht verändert, aber doch in wichtigen Punkten ergänzt. Das einzige (wohl auch quellenbedingte) Manko betrifft die Einordnung in den Gesamtprozess: Hier bleiben die Überlegungen letztlich vage und spekulativ. Dies ändert jedoch kaum etwas an dem vorzüglichen Eindruck, den die Studie hinterlässt: Sie ist eine präzise Untersuchung eines Massakers und zugleich eine ernüchternde Analyse der juristischen Ahndungsversuche.