Gegenstand des vorliegenden Bandes sind Sprache und Identität der Menschen, die ab 1945 die polnische Region Lebus, gelegen an der westlichen Grenze des nach Westen verschobenen Staates, besiedelten oder dort bereits zuvor gelebt hatten. Dazu führte Anna Zielińska, Professorin am Institut für Slawistik der Polnischen Akademie der Wissenschaften, Tiefeninterviews mit 137 Gewährspersonen aus 52 Ortschaften durch, z.T. gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen. Die Studie ist insofern innovativ, als sie die erste umfassende Untersuchung zur Sprachlandschaft der sogenannten „Wiedergewonnenen Gebiete" darstellt, die nicht von den ideologischen Verzerrungen linguistischer Forschung in der Volksrepublik Polen geprägt ist.
Die älteste Generation ihrer Gewährspersonen kategorisiert Zielińska zunächst zutreffend nach ihrer Migrationsgeschichte (S. 19-42): Zu unterscheiden sind Autochthone (vor 1945 in der Region Lebus Geborene), freiwillig Zugezogene (vor 1945 in den angrenzenden Kreisen Großpolens Geborene, die zuerst in die Region Lebus kamen, und Siedler aus anderen Teilen Polens) sowie Zwangsumgesiedelte. Letztgenannte wiederum unterteilt Zielińska in Vertriebene (aus den ehemaligen polnischen Wojewodschaften der heutigen Westukraine), Flüchtlinge (aus Polesien und der Bukowina) sowie Opfer ethnischer Säuberungen (Ukrainer und Lemken aus dem heutigen Südostpolen; 1947 im Zuge der „Aktion Weichsel" nach West- und Nordpolen umgesiedelt).
In ihrer eher kurz gehaltenen Darstellung des Forschungsstandes (S. 48-67) zeigt die Verfasserin überzeugend die politische Motiviertheit vieler Publikationen auf, die sich in der Volksrepublik Polen mit der sprachlichen Situation in Westpolen befassten. Selbst die autoritative „Encyklopedia języka polskiego" verfügte noch 1994 über ein Stichwort zur „sprachlichen Integration in den West- und Nordgebieten". Sie betrachtete damit ohne empirische Prüfung einen Zustand als gegeben, der in der Volksrepublik angestrebt wurde, indem man die unterschiedliche Herkunft der zugezogenen Bevölkerungsgruppen und die polnisch-deutsche Zweisprachigkeit der Autochthonen verschleierte (S. 50f.). Mit Karol Dejna hebt Zielińska zudem die Unzulänglichkeit „klassischer", strukturalistisch geprägter Dialektforschung für die Untersuchung einer Sprachkontaktsituation hervor, wie sie in der Region Lebus vorliegt (S. 53).
Der Begriff „Zweisprachigkeit" zieht sich durch vier von fünf Titeln der zentralen Kapitel, wobei er sich auf unterschiedliche Aspekte bezieht: auf das Sprechen selbst („polnisch-deutsche Zweisprachigkeit"), auf eine nationale und eine ethnische Gruppe zugleich („Zweisprachigkeit der Ukrainer und Lemken"), auf ein Dorf („Zweisprachigkeit von Białków" – hier siedelten sich geschlossen Flüchtlinge aus Polesien an) und auf areale Herkunft („Zweisprachigkeit der Bukowiner"). Das fünfte zentrale Kapitel befasst sich mit der „polszczyzna południokresowa", d.h. dem Polnischen der Vertriebenen aus der heutigen Westukraine. Strukturprinzip aller Kapitel ist zunächst die Beschreibung der soziolinguistischen Situation und daran anschließend der Überblick über sprachstrukturelle Merkmale, der auch Beispiele aus anderen Studien einbezieht. Hinsichtlich des Umfangs dominieren klar die Betrachtungen zur polnisch-deutschen Zweisprachigkeit sowie zur Zweisprachigkeit der Ukrainer und Lemken.
Polnisch-deutsche Zweisprachigkeit konstatiert die Verfasserin bei Gewährspersonen, die in der Zwischenkriegszeit in der heutigen Region Lebus, d.h. im damaligen Deutschen Reich (S. 68) geboren wurden. Sie sprechen im Alltag sowohl in ihrem privaten Umfeld als auch in Außenkontakten Polnisch, beherrschen aber aufgrund des Besuchs deutscher Schulen, z.T. auch aufgrund des Gebrauchs im Elternhaus, in sehr unterschiedlichem Maße bis heute das Deutsche. Charakteristisch für ihre gemischte Rede ist die Übertragung von grammatischen Mustern, etwa das Ignorieren der Aspektkategorie bei der Bildung polnischer Verbformen oder die Bildung der polnischen Vergangenheitsform nach dem Muster des deutschen Perfekts („Moje dzieci są umierały" analog zu „Meine Kinder sind gestorben", vgl. S. 236).
Die Rede der übrigen Bevölkerungsgruppen hingegen zeichnet sich durch das Überwiegen anderer Sprachkontakt-Phänomene aus. Zielińska führt dies zu Recht darauf zurück, dass es sich dabei um den Kontakt zwischen slawischen Sprachvarietäten handelt, deren Systeme nah verwandt sind (S. 234). Häufig kommt es hier zu einem Code-Switching im Sinne von Gumperz, d.h. dazu, dass in einem Text Teile einer Äußerung miteinander verbunden werden, die zu zwei unterschiedlichen grammatischen Systemen oder Subsystemen gehören, z.B. ukrainisch-polnisch (S. 171): „Ja daleko ne idu, jakby tut w tym okręgu Ukrajinći mały temnu szkiru, to by sia wkazało, kto jaki jest, a tak to wszys[t]ko się zamaskowało." („Ich gehe nicht weit, wenn hier in diesem Bezirk die Ukrainer eine dunkle Hautfarbe hätten, dann würde sich zeigen, wer was für einer [hinsichtlich der nationalen Zugehörigkeit, Anm. MB] ist, doch so ist alles verdeckt.") Zweites typisches Phänomen des slawisch-slawischen Sprachkontakts in der Region Lebus sind, in Anlehnung an Sarah Thomason, die von den Sprechern praktizierten Regeln phonetischer Umwandlung, z.B. die Ersetzung des polnischen [ž] durch ukrainisches [r] bei Verwendung der polnischen Wortform in ukrainischer Rede, z.B. „korytaria" (poln.: „korytarza"), „prywiuzł" (poln. „przywiózł", S. 235).
Während also in sprachstruktureller Hinsicht die polnisch-deutsche Zweisprachigkeit mit den anderen in dem Band beschriebenen Sprachkontaktsituationen kontrastiert, hat sie aus sprachsoziologischer Perspektive Gemeinsamkeiten mit der polnisch-ukrainischen Zweisprachigkeit. Die von der staatlichen Propaganda in der Volksrepublik Polen geschürten negativen Einstellungen zur deutschen Sprache hatten ihre Wurzeln in der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, die ebenfalls propagandistisch befeuerten Vorbehalte gegenüber dem Ukrainischen hingegen gingen auf die Massaker der Ukrainischen Aufstandsarmee (UPA) an polnischen Siedlern in Wolhynien zurück. Die Entstehung eines separaten lemkischen Selbstverständnisses ist, wie Aussagen von Zielińskas Gewährspersonen belegen, auch als Ausweichstrategie zu verstehen, um dem negativen Heterostereotyp des „Bandera-Ukrainers" zu entgehen (S. 128; S. 130). Gleichzeitig verknüpfen die Gesprächspartner der Autorin das „Lemke-Sein" jedoch mit sprachlichen Merkmalen und der territorialen Herkunft aus der „Łemkowszczyzna", so dass es nicht völlig frei als Alternative zum „Ukrainer-Sein" wählbar war (S. 131).
In schwächerem Maße, aber immer noch beträchtlich, wirkte „Sprache als Stigma" (S. 238-255) für die übrigen im Band behandelten Sprechergruppen. Modelltheoretisch erfasst Zielińska die dabei aufgetretenen Prozesse mit dem Ansatz Bourdieus zu „symbolischem Kapital" und „symbolischer Gewalt", vor allem aber mit dem „Stigma"-Konzept von Erving Goffman. Die erste Phase der Stigmatisierung nach Goffman, die – oft sachlich falsche – Erkennung eines Unterschieds, belegt Zielińska etwa an der Identifizierung der Bukowina-Polen als vermeintliche Rumänisch-Sprecher oder der Sprecher von Mundarten der südlichen „kresy" als Ukrainer (S. 242). Die zweite Etappe, das Aufsetzen der „Maske", wonach der eigene, private Sprachgebrauch nicht der Norm entspreche, ergab sich aus der offiziellen Sichtweise, dass in Westpolen das „reinste Polnisch" gesprochen werde (S. 243). Diese wurde in der Volksrepublik Polen von der linguistischen Forschung verbreitet, die die Fortexistenz sprachlicher Minderheitenvarietäten in Westpolen ignorierte und die „sprachliche Integration" der neu Angesiedelten hervorhob. (Zwar gab es in der Region Lebus in den Nachkriegsjahrzehnten durchaus eine Tendenz zur Verwendung der polnischen Standardsprache anstelle nichtstandardsprachlicher Redeformen, doch war dies eine Entwicklung, die das gesamte Land betraf, im Westen allerdings propagandistisch von besonderem Nutzen war.) Die dritte Etappe schließlich, die alltäglichen Wirkungen der Stigmatisierung, zeigte sich nicht nur in offenen Anfeindungen in der Schule als Reaktion auf deutsche oder ukrainische Redeelemente, sondern auch, wenn auch milder, in der „Selbstbeschränkung" der umgesiedelten Bukowiner und Polesier, ihre Mundarten öffentlich nur im folkloristischen Kontext zu gebrauchen.
Insgesamt gelingt es der Autorin eindrucksvoll, das teilweise bis heute wirkmächtige Klischee vom „reinsten Polnisch" im Westen des Landes zu widerlegen. Zahlreiche Fotos, zum großen Teil aus den privaten Beständen der Gewährspersonen, machen das Thema anschaulich; der ausführliche Abdruck von Interviews in ihrer ursprünglichen sprachlichen Gestalt (S. 256-386) sorgt für Transparenz der Befunde und die Möglichkeit weiterer Vertiefung. Ein kleineres Manko ist, dass jegliche historische und aktuelle Karten fehlen, die die Orientierung im untersuchten Gebiet erleichtern würden. Zudem leuchtet nicht ganz ein, dass die Autorin in ihrem Ausblick zwar einerseits – zu Recht – aktuelle Multikulturalismus-Konzepte als paternalistisch kritisiert (S. 252), andererseits aber für die Region Lebus eine „Authentizität" (im Sinne Heideggers) fordert, die unhinterfragt als Vielfalt von Sprachen und sprachbezogenen Identitäten gedacht wird (S. 255). Denn aus den soziolinguistischen Beschreibungen der einzelnen Sprechergruppen geht, wenn auch nicht sehr exponiert, hervor, dass die jeweils jungen Generationen eher wenig Wert auf den Erhalt „ihrer" minoritären Sprachvarietäten und sprachbasierten Selbstverständnisse legen. Eine zeitgemäße Sprach- und Kulturpolitik aber müsste auch diese individuelle Wahl als legitim ansehen.