Die Vermutung läge nahe, das diesem Buch zu Grunde liegende Thema wäre umfassend erforscht und eine vergleichende Geschichte der ostmitteleuropäischen Staaten nach dem 2. Weltkrieg bereits geschrieben. Sicherlich gibt es zahlreiche Studien zu einzelnen Aspekten und solche zu einzelnen Ländern, aber eine Gesamtschau wurde bisher noch nicht geleistet. Nennenswerte Publikationen sind wegen ihres Sammelbandcharakters zeitlich und thematisch zu breit gestreut oder unterscheiden sich in ihrer Herangehensweise. [1]
Anne Applebaums neuestes Buch ‚Iron Curtain' füllt daher eine Lücke. In ihrem Buch entfaltet sie anhand der Beispielländer DDR, Polen und Ungarn eine Rundumschau über die Sowjetisierung Ostmitteleuropas. Anders ausgedrückt, sie untersucht, wie die kommunistischen Regime ihre Herrschaft durchsetzten und welche Gemeinsamkeiten in der Durchsetzung kommunistischer Herrschaft es gab.
Als Erklärung dient ihr ein Totalitarismusansatz, den sie aber nicht weiter ausführt. Im Vorbeigehen streift sie zwar die für diesen Ansatz wichtigen Namen (sie nennt Mussolini, Arendt, Friedrich und Brzeziński), doch unterlässt sie es, ihr Verständnis eines Totalitarismusansatzes deutlich zu machen. Ihr Buch strebt im Grunde nichts Geringeres als die universelle Rehabilitierung dieses Ansatzes an.
Doch Applebaum belässt es nicht bei einer rein politischen Geschichte. In ihrem Buch fragt sie zugleich nach den gesellschaftlichen Binnenprozessen, Innenperspektiven der Subjekte und dem Verhältnis von Staat und Bürger in Staaten mit unterschiedlicher politischer Kultur, in denen das gleiche politische System mit Gewalt eingeführt und durchgesetzt wurde.
Applebaum möchte, wie sie selbst in der Einleitung formuliert, den Totalitarismus in der Praxis verstehen, unter dem Millionen von Menschen in Europa gelebt haben.
Nach einer knappen Einleitung mit einem Überblick über die Herausbildung der kommunistischen Herrschaften und einer Beschreibung ihres Stalinismusverständnisses folgen 18 thematische Kapitel. Dabei unterscheidet sie eine Frühphase stalinistischer Herrschaft (1945-1948) und einen Hochstalinismus (1948-1953) plus politisches Nachspiel (Aufstand in Ungarn und Polen).
Die thematischen Kapitel behandeln gängige Themen (wie etwa Sicherheitsbehörden, Gewalt, Radio, Jugend, Wirtschaft, Feinde, ideale Städte). Jedes Kapitel illustriert die Durchsetzung kommunistischer Herrschaft in den einzelnen Ländern. Durch das kapitelweise Nebeneinanderstellen der Ereignisse in den einzelnen Ländern identifiziert sie die gleichlaufenden Prozesse der Machtdurchsetzung.
Applebaum argumentiert, dass kein gesellschaftlicher Bereich von der Durchdringung der Regime frei geblieben sei. Ein Gewalt- und Überwachungsstaat hätte die kommunistischen Regime überhaupt erst ermöglicht. Die Regime hätten ihre Herrschaft aber nur deshalb auf Dauer stabilisieren können, weil den Menschen in diesen Gesellschaften neben der reinen Angst und Unterdrückung verschiedene Anreize geboten worden seien. So habe regimekonformes Verhalten Bildungschancen eröffnet, und damit sozialen Aufstieg und ein materiell sicheres Leben garantiert. Solange die Subjekte die politische Deutungsmacht der Kommunisten nicht in Frage stellten, hätten die kommunistischen Regime Raum gelassen für eigene Lebensweisen im Alltag. Das habe sowohl die Realisierung politischer wie sozialer Ziele eingeschlossen, als auch eine Lebensführung im Einklang mit dem Regime und seinen Vorgaben, ohne sich vollständig anzupassen. Auf diese Weise kommt Applebaum zu dem Schluss, dass nicht nur Gewalt und Repression zur Stabilisierung von Herrschaft beitrugen. Auch subtile Formen der sanften Gewalt und verschiedene Soziotechniken waren Kernbestandteil kommunistischer Herrschaft.
Applebaum reduziert das Handlungsspektrum der Subjekte nicht allein auf Anpassungsstrategien, sondern arbeitet verschiedene Formen des Widerstands, der Resistenz, des Sich-Nicht-Anpassens, Verweigerns und Entziehens heraus.
Immer wieder geht Applebaum auf die innersystemischen Spannungen ein. Die kommunistischen Regime hätten weder ihr Versprechen auf ein besseres Leben für alle im Sozialismus umgesetzt, noch hätten diese Regime einen funktionstüchtigen Staat geschaffen. Vielmehr habe die kommunistische Ordnung permanente Zielkonflikte produziert, verursacht von überhöhten Ansprüchen, fehlenden Kenntnissen und ideologischem Eifer, der in Verfolgungswahn oder in gesellschaftliche Homogenisierungsabsichten mündete.
Zum Schluss ihres Buches thematisiert Applebaum die Auswirkungen von ständig anwesender Repression und dem daraus folgenden Anpassungsdruck für eine Gesellschaft. Sie kommt zur Schlussfolgerung, dass die Menschen entweder auswanderten, zynisch wurden oder an kognitiver Dissonanz litten – an Letzterem krankten die post-kommunistischen Gesellschaften noch heute. Diese von ihr gezogene Schlussfolgerung scheint mir aber über die Grenzen ihrer Interpretationsmöglichkeiten hinaus zu gehen. Denn dass die in den Ländern spezifische Herrschaftsform bis 1956 zu solch dauerhaften, lang nachhaltenden kollektiven Verhaltensmustern führte, ist aus zwei Gründen unplausibel.
Zum einen unterschlägt Applebaum die Verschiedenartigkeit der kulturellen und politischen Kontexte in den einzelnen Ländern vor 1956.
Zum anderen reduziert sie die Rolle der Zeit nach 1956 auf eine Ableitungsfunktion der stalinistischen Phase in diesen Ländern. Solch eine Perspektive übersieht nicht nur die tatsächlich unterschiedlichen Entwicklungspfade in den verschiedenen sozialistischen Staaten, sondern auch die Kontingenz von historischen Ereignissen überhaupt.
Eine große Stärke ihrer Studie ist ihre synthetische Leistung, viele neuere Forschungsergebnisse unter einer gemeinsamen analytischen Fragestellung zusammen zu bringen. Applebaum erfüllt damit die Ansprüche an einen Ländervergleich. Denn durch diesen stellt sie heraus, wie sehr sich die Prozesse und Mechanismen der kommunistischen Herrschaftsbildung und -durchsetzung glichen. Applebaum geht aber über einen einfachen Totalitarismusansatz hinaus, indem sie auch gerade die Rolle von in Moskau geschultem und in den Ländern eingesetztem Personal thematisiert. Sie reduziert die Geschichte der Sowjetisierung nicht alleine auf eine politische Geschichte und behauptet auch nicht die Allmacht der kommunistischen Regime. Vielmehr geht sie den vielfältigen Gründen nach, die historische Subjekte bewog, sich mit diesen politischen Systemen zu arrangieren.
Das von Applebaum verwendete Totalitarismusmodell lässt aber doch zwei Kritikpunkte zu: Zum einen ist dieses Modell nicht gänzlich frei von einem Tautologieverdacht. Zum anderen droht Applebaum Anspruch und Wirklichkeit zu verwechseln. Man kann den Verdacht nicht abschütteln, sie möchte um jeden Preis einem mehrheitlich ausgedienten, ihr aber sympathischen Konzept zum wissenschaftlichen Comeback verhelfen.
Den totalitären Charakter, den Applebaum eigentlich im Laufe ihrer Untersuchung belegen sollte, unterstellt sie bereits in der Einleitung und sucht dementsprechend nach bestätigenden Beispielen – die sich natürlich dann auch finden. So wird nicht recht klar, warum ethnische Säuberungen etwas typisch Stalinistisches, Totalitäres sein sollen. Passenderweise geht sie in dem Kapitel zu den ethnischen Säuberungen kaum auf den ungarischen Fall ein. Es scheint doch, als ob die Ursachen für die Vorgänge von teils gewaltsamer, teils erzwungener Umsiedlung nach dem 2. Weltkrieg zum einen in einem anderen historischen Kontext zu suchen sind [2] und zum anderen nichts darstellen, was sich allein aus der Eigenschaft totalitärer Staaten ergäbe [3].
Zwar bemüht sie sich, die Menschen unter diesen Regimen und ihre Handlungsweisen zu verstehen; das Gleiche gilt aber nicht für die kommunistischen Funktionäre. Sie benennt zwar einige Gründe, weshalb sich Personen für ein aktives Leben unter dem kommunistischen Regime entschieden. Doch erkennt Applebaum in diesen Entscheidungen für das kommunistische Regime ausschließlich destruktive Gründe. Die Ursache mit dem geringsten Makel ist das durch den Krieg verursachte Herausfallen der historischen Subjekte aus ihrem moralischen Koordinatensystem.
Das bleibt ein Manko dieses Buches. Denn es stellt die kommunistischen Machthaber und die dem Regime zuarbeitenden Menschen in ein blasses Licht. Nicht nur, dass dem Leser der Eindruck vermittelt wird, kommunistische Funktionäre waren per se zynische, machthungrige und gewalttätige Personen, zudem werden sie in dieser Lesart zu unfähigen Subjekten gemacht und das Projekt eines kommunistischen Staates und Gesellschaft wird per Definition zum Scheitern verurteilt. Abgesehen von dieser gewagten These, fragt man sich dann allerdings, wie die kommunistischen Regime es trotz alldem geschafft haben, einen mehr als vier Jahrzehnte existierenden Staats- und Parteiapparat zu etablieren. Applebaum leistet auf diese Weise keinen Beitrag zum Verstehen der Herrschaft auf lange Dauer.
Eine weitere Kritik ist, dass Applebaum selten über die einzelnen Erkenntnisse der aktuellen Forschung hinausgeht. Ihre Analyse stützt sich maßgeblich auf Ergebnisse aus der gängigen wissenschaftlichen Literatur. Zwar nutzt sie auch Zeitzeugengespräche als eine weitere Quelle. Doch kann an ihrem Umgang mit diesen auch Kritik formuliert werden. Zum einen kommt ihnen nur ein illustrativer Charakter zu. Zum anderen problematisiert sie an keiner Stelle die methodische Brisanz von Zeitzeugen als einer möglichen historischen Quelle. Es entsteht der Anschein, als ob Applebaum sich nur auf die Informationen aus den Gesprächen bezieht, die sich in ihr Erzählmuster einpassen. Doch muss bei einer solchen vergleichenden Länderstudie nicht zwingend erwartet werden, dass vielfältige neue Quellen herangezogen werden.
In allem kann festgehalten werden, dass bei allen kleineren Mängeln Applebaums Studie eine gelungene und dem Leser hilfreiche Analyse bietet, um sich mit der Durchsetzung kommunistischer, sowjetischer Macht in diesen Regionen vertraut zu machen. Applebaum gelingt es mit ihrem Buch, ein Panorama über die Verhältnisse unter den kommunistischen Regimen Ostmitteleuropas unmittelbar nach 1945 zu entfalten, dass nicht nur den erkenntnisreichen Mehrwert einer guten Zusammenschau hat, sondern auch mit einzelnen interessanten Detailinformationen aufwartet.
[1] Vgl. Balázs Apor/Péter Apor/Edward A. Rees, The Sovietization of Eastern Europe (Washington 2008); Norman M. Naimark/Leonid Gibianskii, The Establishment of Communist Regimes in Eastern Europe 1944-1949 (Boulder/Colorado 1997); Robert B. Pynsent, The Phoney Peace: Power and Culture in Central Europe 1945-1949 (London 2000); Vladimir Tismaneanu, Stalinism Revisited: The Establishment of Communist Regimes in East Central Europe (Budapest, New York 2009).
[2] Eva Hahnová/Klaus Henning Hahn, Die Vertreibung im deutschen Erinnern: Legenden, Mythos, Geschichte (Paderborn 2010); Zum polnischen Fall vgl. Michael G. Esch, ‚Gesunde Verhältnisse': Deutsche und polnische Bevölkerungspolitik in Ostmitteleuropa nach 1939-1945 (Marburg 1998).
[3] Vgl. Zygmunt Bauman, Moderne und Ambivalenz: Das Ende der Eindeutigkeit (Hamburg 2005); für eine historische Analyse vgl. Philipp Ther, Die dunkle Seite der Nationalstaaten. ‚Ethnische Säuberungen' im modernen Europa (Göttingen 2011).
1 comment:
spannend!