Der Warschauer Historiker und Soziologe Marcin Zaremba stellt in dem 2012 veröffentlichten Band „Wielka Trwoga“ (dt.: „Die große Furcht“) die Frage, wovor man in Polen nach dem Zweiten Weltkrieg Angst hatte, wie sich dieses Gefühl manifestierte und mit Hilfe welcher Strategien versucht wurde, die Nachkriegsängste zu überwinden. Diese Fragestellung leitet sich von der Annahme ab, dass die Mehrheit der Studien zur polnischen Nachkriegsgeschichte auf die Ereignisse und politische Dimension der Vergangenheit konzentriert sei, während viele Probleme der Sozial- und Alltagsgeschichte unberührt blieben. Dazu gehört auch die Geschichte kollektiver Emotionen. Für die unmittelbare Nachkriegszeit, deren Zäsuren Zaremba mit dem Einmarsch der Roten Armee in Ostpreußen im Herbst 1944 und den Wahlen vom Januar 1947 verbindet, identifiziert er acht Angstauslöser.
Auf die einleitenden Abschnitte über Ängste im Zwischenkriegspolen und die psycho-sozialen Konsequenzen des Zweiten Weltkrieges folgen deswegen acht in epischer Breite geschriebene Kapitel.
Am Anfang steht die Angst vor den Soldaten der Roten Armee. Sie löste schnell die Freude über die Befreiung ab und vertiefte das ohnehin große Gefühl der Unsicherheit. Unter das Stichwort „demobil“ (dt.: aus alten Heeresbeständen) subsummiert Zaremba demobilisierte Soldaten, Kriegsinvaliden und Deserteure, Heimat- und Arbeitslose, Vagabunden, Spekulanten und „böse Milizionäre“. Somit wird die Masse der Ausgegrenzten und Verlierer thematisiert, die in den bisher geltenden Meistererzählungen über die polnische Nachkriegsgeschichte abwesend waren. Angst hatte man im Nachkriegspolen auch vor Plünderern polnischen, jüdischen und deutschen Eigentums, denen ein ausführliches Kapitel gewidmet wird. Ein weiteres beschäftigt sich mit dem Nachkriegsbanditentum. Auf den ersten 350 Seiten der Studie geht es also um die Quellen der Angst und die Perspektive „von unten“.
Damit kontrastiert das Kapitel über die „Politik der Angst“, in dem Handlungsstrategien polnischer Sicherheitskräfte und des NKWD, die politische Semantik polnischer Kommunisten, aber auch die gesellschaftliche Verankerung der „politischen Angst“ untersucht werden.
Auf diese Weise wird der Blick „von oben“ mit dem „von unten“ verschränkt – eine Perspektive, die man in den anderen Abschnitten teilweise vermisst. Auf fast 100 Seiten werden anschließend die Ängste vor dem Provisorium (poln. tymczasowość) analysiert. Diese Ausführlichkeit geht vor allem auf die Breite der angesprochenen Themenbereiche zurück. Erforscht werden in diesem Kapitel so unterschiedliche Aspekte der Nachkriegsgeschichte wie die Unsicherheit polnischer Grenzen und internationale Spannungen, die Währungsreform vom Januar 1945, politische Turbulenzen, die Kollektivierung der Landwirtschaft und die Verstaatlichung der Industrie, das Ausmaß der Kriegszerstörungen, die Omnipräsenz der Minen, aber auch die Abkehr von der Religion. Separat werden die „drei apokalyptischen Reiter“ behandelt: die Angst vor Hunger, Überteuerung und Infektionskrankheiten.
Das letzte Kapitel trägt die Überschrift „Phobien und ethnische Gewalt“ und ist den dunkelsten Seiten der polnischen Nachkriegsgeschichte gewidmet: dem Töten und Vertreiben von Nachbarn. Zaremba trägt darin die neusten Forschungserkenntnisse über die Flucht und Vertreibung der Deutschen, die blutige Auseinandersetzung mit Ukrainern und Weißrussen und über die Geschichte der Judenpogrome zusammen. Das Ergebnis ist ein imposantes Panorama der unmittelbaren Nachkriegszeit in Polen. Oder genauer gesagt, der Nachkriegsgeschichte der Polen, denn bis auf einige wenige Ausnahmen wird in „Wielka trwoga“ die Perspektive der polnischen Bevölkerung und – wenn auch in geringem Maße – der polnischen Machtelite rekonstruiert.
Die auf dem polnischen Gebiet zwischen 1944 und 1947 lebenden Anderen kommen als handelnde Akteure und nicht lediglich als Objekte der Geschichte leider nur selten zum Wort. Mehr Aufmerksamkeit für die Stimmen der Anderen würde bestimmt zur Differenzierung des Blickes beitragen. Beeindruckend ist dafür die Breite der analysierten Quellen. Zaremba untersucht die polnischen Nachkriegsängste anhand von Berichten, die von polnischen und sowjetischen Sicherheitskräften, dem Militär und Verwaltungsbehörden sowie verschiedenen politischen Akteuren verfasst wurden. Darüber hinaus werden Ego-Dokumente analysiert: Sie reichen von veröffentlichten Tagebüchern und Memoiren, über unveröffentlichte Aufzeichnungen bis hin zu abgefangenen Briefen. Ausführlich zitiert wird auch aus lokaler und überregionaler Presse sowie Literatur und Essayistik. Gelegentlich werden Fotographien und Karikaturen herangezogen.
Dank dieses weiten Spektrums der untersuchten Textsorten kann Zaremba unter anderem die im Nachkriegspolen kursierenden Gerüchte, populäre Sprüche, Lieder und Witze rekonstruieren – das heißt gerade die sozialen Tatbestände, die für die Analyse kollektiver Emotionen von grundlegender Bedeutung sind. Beachtenswert ist auch die regionale Differenzierung der Quellen. Sie gibt dem Autor die Möglichkeit, nicht nur die Dynamik der Nachkriegsängste zu erfassen, sondern auch Aussagen über ihre Kartografie zu treffen. Beides ist zwar spekulativ, aber die Masse der herangezogenen Quellen verleiht den vorsichtig formulierten Erkenntnissen die notwendige Glaubwürdigkeit.
Wünschenswert wäre jedoch, dass die in den einzelnen Kapiteln verstreuten Aussagen über die Wellen der Nachkriegsangst in dem Abschlussteil deutlicher zum Ausdruck kommen und mit den Narrativen über den erfolgreichen Wiederaufbau des Landes nach dem Krieg konfrontiert werden. Die fehlende Kontextualisierung hängt wohl mit der Poetik der „großen Quantifikatoren“ zusammen, die Jerzy Jedlicki in seiner ansonsten sehr positiven Besprechung des Bandes hervorhob.[1]
Durch die Konzentration auf Ängste, Phobien und Panikattacken, die die polnische Nachkriegsgesellschaft prägten, gehen die Hoffnungen auf eine bessere Zukunft, der Eifer des Wiederaufbaus und die Freude des Neuanfangs aus den Augen verloren. Diese andere Seite der Medaille wird in der Einführung zwar angesprochen, aber nicht weiter konzeptualisiert. Der im Jahre 1930 geborene Jedlicki schließt daran sehr persönliche Reflexionen an: „Wir hatten damals das Gefühl des Neuanfangs, unter die jüngste Vergangenheit zogen wir einen dicken Strich. Es werden ein paar Jahre vergehen, bis sich diese Hoffnungen zerschlagen haben werden. Die Atmosphäre dieser Nachkriegsjahre findet einen starken Widerhall in der Literatur. Vielleicht war das nur eine naive Reaktion der Intelligenz auf die Krise, der Zaremba die Volksreaktion gegenüberstellt. Aber diese extreme Gegenüberstellung trügt, denn sowohl das eine als auch das andere ist nur eine Teilwahrheit, die einer Ausbalancierung und Korrektur bedarf. Es gab nämlich unterschiedlich denkende und unterschiedlich fühlende „Intelligenzen“, es gab in einem Land verschiedene „Völker“ und sie schufen verschiedene Geister.“[2]
Die Fülle von Rezensionen von „Wielka trwoga“, die in den polnischen Medien erschienen sind, zeigen unbestritten, dass Zarembas Deutung der Nachkriegsgeschichte den Nerv getroffen hat. Inzwischen liegt sein Buch in der zweiten Auflage vor. „Wielka trwoga“ wurde mit dem renommierten Kazimierz-Moczarski-Preis für das Historische Buch des Jahres 2013 sowie mit dem Klio-Preis für die beste polnische Geschichtsmonographie ausgezeichnet.
Bereits Zarembas erste Monographie über die Legitimierung der Herrschaft im kommunistischen Polen, das 2001 auf Polnisch und zehn Jahre später in deutscher Übersetzung erschien,[3] gehört zu Pflichtlektüren von Historikern, die sich mit der Erforschung der polnischen Nachkriegsgeschichte beschäftigen. Mit an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit kann man sagen, dass auch „Wielka trwoga“ bald den Status eines modernen Klassikers bekommt.
[1] Jerzy Jedlicki: Strachy polskie, in: Polityka, 22.02.2014.
[2] ebda.
[3] Marcin Zaremba: Komunizm, legitymizacja, nacjonalizm: Nacjonalistyczna legitymizacja władzy komunistycznej w Polsce. Warszawa: Wydawnictwo Trio, 2001. Dt. Ausgabe: Im nationalen Gewande: Strategien kommunistischer Herrschaftslegitimation in Polen 1944-1980, aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann, mit einer Einführung von Robert Brier, Osnabrück: fibre, 2011 (Klio in Polen, 14). Rezensiert auf Pol-Int von Steven Seegel