Das hier zu besprechende Buch erlebt seit seinem Erscheinen eine besondere Aufmerksamkeit. Diese Popularität ist bemerkenswert, zeigt sie doch das in Polen gegenwärtig gesteigerte Interesse am baulichen Erbe der ehemaligen Volksrepublik. Obwohl es die meisten polnischen Städte und ländlichen Siedlung nach wie vor wesentlich prägt, war dieses Erbe über lange Jahre einer nachsozialistischen Verdrängung ausgesetzt. Filip Springer scheint für die Artikulierung dieser neuen Sensibilität und für die damit einhergehende, schwierige (Wieder)Aneignung dieses Erbes den richtigen Ton und eine eine breite Rezipientenschaft ansprechende Form gefunden zu haben. Das - und weniger eine etwaige historisch-kritische Erarbeitung der Architekturgeschichte der VR Polen - macht das Buch Springers, das Agens, Reflex und Bericht dieser Aneignung ist, interessant.
Springer wählt für seine Form der Annäherung den durchaus treffenden Begriff der Reportage, wobei der Autor - der Profession nach Fotograf - seine Berichte mal mit verbalen, mal mit visuellen oder mit beiden Mitteln gemeinsam erstattet. Die vierzehn Reportagen führen zu Architekten, einzelnen Objekten oder Bauensembles. Die vom Autor nicht weiter erläuterte Auswahl legt einen deutlichen Schwerpunkt auf die 1960er und 1970er Jahre, der um einige Beispiele aus den 1950er Jahren erweitert wird. Die Architektur der Zeit des so genannten Sozrealismus ist bis auf den von Marek Leykam 1952 realisierten Sitz des Regierungspräsidiums in Warschau, den Springer allerdings als einen Scherz über die Doktrin des sozialistischen Realismus verstanden wissen will, ausgeblendet. Realisierungen der 1980er Jahre sucht man gleichfalls vergebens.
In der Anordnung der Reportagen lässt sich eine - wenn auch nicht strenge - Choreografie erkennen, mittels derer das Augenmerk zunächst auf einzelne Architekten, dann auf einzelne Bauten und schließlich auf größere Bauensembles gelenkt wird.
Der Zugang zu den Objekten, Personen und deren Werk variiert, wobei aber stets eigene Beobachtungen, historische Informationen, zeitgenössische Reflexionen über Personen und Bauten sowie die Beschreibung des gegenwärtigen Umgangs und Zustandes der Objekte miteinander verbunden werden.
Dieses Patchwork aus Impressionen, Fakten und Anekdoten lässt sehr wohl die Verwobenheit der porträtierten Architekten und ihrer Arbeit mit der jeweiligen gesellschaftlichen Gegenwart und den wirtschaftlichen Bedingungen des polnischen Sozialismus aufscheinen. Dennoch bleibt der einzelnen Architekt - die vier Fotoreportagen ausgenommen - Bezugspunkt der Darstellungen. Historische Genauigkeit strebt der Autor dabei nicht an. Stattdessen schlüpft Springer dann und wann in die Psyche seiner Protagonisten und lässt uns nachempfinden, was er, der Autor, glaubt von den Akteuren und der Zeit zu wissen. Woher er die hierfür nötigen Informationen nimmt, bleibt nicht selten unklar. Mitunter wird auf Gespräche mit ehemals Beteiligten und auf Literatur verwiesen, wobei zu befürchten steht, dass der Autor - ob der Auslassung jeglicher Quellenkritik - dabei nicht selten der Selbststilisierung der beteiligten Architekten oder deren Schüler aufsitzt.
Die Reportagen spiegeln eine tastende und selektive Aneignung, die vor- und zurückschwingt, die zwischen Faszination, Entdeckergeist und Abstoßung Kriterien sucht, um sich ein Urteil über das als schwierig empfundene architektonische und städtebauliche Erbe der polnischen Volksrepublik zu bilden. Programmatisch stellt Springer seinen Reportagen eine Reflexion über das kurze, vielversprechende Schaffen des Architekten Maciej Nowickis, der 1950 bei einem Flugzeugunglück umkam, voran.
Enden lässt er seine Darlegungen mit einer ausführlichen Besprechung des vielseitigen Werks der Architekten Zofia und Oskar Hansen. Die beiden Kapitel bilden eine Klammer, in die die subkutanen Argumentationsstränge eingespannt sind, die sich unter der Oberfläche der einzelnen Reportagen entlangziehen und dabei jene Schwingungen erzeugen, die die eingangs beschriebenen Resonanzen beim Publikum hervorrufen. So sind die Darstellungen von einem eng gefassten, dabei längst überholten Modernebegriff geleitet, der sein alleiniges Maß in der architektonischen Avantgarde findet und dem der Ausschluss des sozialistischen Realismus wie auch des typisierten Wohnungsbaus, der den Schwerpunkt der baulichen Investitionen in den 1980er bildete, geschuldet sein dürfte. Begleitet wird diese Vorstellung von der Suggestion, dass das wirklich Bemerkenswerte nur als Insel in der sozialistischen Gegenwart der VR Polen, als Exklave, als Ausnahme existierte. Es schlägt hierin die Vorstellung einer gesellschaftlichen Dichotomie zwischen denen, die die polnische Gesellschaft im Griff hielten auf der einen Seite und denen, die diesem Griff ausgesetzt waren, auf der anderen Seite durch.
Entsprechend erscheinen die von Springer vorgestellten Architekten als einsame Kämpfer, Genies und/oder Demiurgen.
Dabei schwebt über allem die unausgesprochene Frage: Was wäre, wenn die Ideen, Konzepte und Bauten eben nicht „źle urodzone“, also unter einem schlechten Stern, geboren worden wären? Hierdurch entsteht eine suggestiv imaginierte Sphäre, in die die vorgestellten Projekte - zwar gründend auf der Realität der VR Polen - hineinragen; eine Sphäre, wo sie eine andere, von den Beschränkungen und den Mängeln ihrer Bauausführung, eine von der Geschichte losgelöste Qualität erhalten bzw. hätten erhalten können. Es ist ein attraktives Identifikationsangebot, welches der Autor sich und seinem Publikum mit dieser Sicht auf die Dinge unterbreitet: die verkannte Größe und das unausgeschöpfte Potential polnischer Architektur, mit denen man nicht nur Schritt mit dem als Maß geltenden Westen halten, sondern diesem im Prinzip hätte vorauseilen können; und die Schuld am Konjunktiv dieses Satzes trägt freilich die andere Seite der Gesellschaft.
Das sich somit aufdrängende Urteil, dass hier der Teufel mit dem Beelzebub ausgetrieben würde, wäre jedoch zu kurz gegriffen. Springer, Jahrgang 1982, steht für eine Generation, die die VR Polen allenfalls in frühen Kinderjahren miterlebt hat und die nun mit der Distanz von mehr als zwei Jahrzehnten die Realia der eigenen Herkunft wiederentdeckt. Zugleich ist diese Generation in der Praxis mit dem Erbe des Bau- und Städtebauwesens der VR Polen konfrontiert und muss dieses aktiv gestalten.
Nicht von ungefähr erhält daher die gegenwärtige Welle der Auseinandersetzung mit der Architektur und dem Städtebau der VR Polen einen wesentlichen Impuls durch die Praktiker, die Stadtplaner und Denkmalpfleger.[1] Dies geht einher mit einer Erfassung des Bestandes, wobei hier die Hauptstadt im Fokus steht.[2] Damit wird die bis dato dominierende Darstellung des Gegenstandes durch Architekten, die selbst Teil dieser Architekturgeschichte waren, abgelöst. Gleichwohl bleibt eine grundlegende kritische, historische Analyse des baulichen Erbes des sozialistischen Polens - im Detail wie in der Synthese - nach wie vor ein Forschungsdesiderat.
Es bleibt zu wünschen, dass im Zuge dessen die auch den Band Springers dominierende Trennung zwischen Sozrealismus und Moderne sowie die Fokussierung auf künstlerisch herausragende Objekte einerseits und auf einige wenige große Städte andererseits überwunden werden. Derweilen gelingt es dem Autor (und dem Verlag) aber mit der hier besprochenen, sowohl in Format und Satz ansprechenden Publikation und in der ausgewogenen Kombination aus eingängigem Text, historischen Abbildungen und eigenen Fotografien, der Realität dieses Erbes neue Sichtbarkeit, historische Plastizität und damit Relevanz zu verleihen. Wenn er damit zu einer breitenwirksamen Revalorisierung und einem deutlich sensiblerem Umgang mit diesem Erbe beträgt, so ist dies in Anbetracht der immer wieder neu drohenden Abrisse ein sehr hoch zu bewertender Gewinn.
Der Band enthält Beiträge zu: Maciej Nowicki, Witold Lipiński, Marek Leykam, Jerzy Hryniewiecki und Oskar und Zofia Hansen sowie über das Gebäude des Supersam am plac Unii Lubelkiej in Warschau, den Pavillon der Chemie in der ul. Bracka in Warschau, den Zentralbahnhof in Warschau, den Hauptbahnhof in Kattowitz, die stadtplanerischen Projekte für Kattowitz unter der Leitung von Mieczysław Król, die Warschauer Siedlungen von Halina Skibniewska, die Gestaltung des Marktplatzes in Posen, die Wohnsiedlungen von Henryk Buszko und Aleksander Franta in Kattowitz und Fotoreihen zur Siedlung „Osiedle Grunwaldzkie“ in Breslau, zur Siedlung „Osiedle za Żelazną Bramą“ in Warschau, zum Kino Kosmos in Stettin sowie zur Sport- und Veranstaltungshalle „Arena“ in Posen.
[1] Als charakteristisches Beispiel sei das Projekt (Ausstellung, Konferenz, Publikation) „Modernizm w architekturze Warszawy lat 60. – perspektywy ochrony konserwatorskiej“ [Die Moderne in der Architektur Warschaus der 1960er Jahre. Perspektiven der Denkmalpflege] genannt, das vom Verband polnischer Architekten (SARP) und dem Konservator für die Hauptstadt von Warschaus 2012/2013 organisiert und durchgeführt wurde.
[2]Siehe die beiden von Marta Leśniakowska publizierten Bände: Architektura w Warszawie. Lata 1945-1965 [Architektur in Warschau. Die Jahre 1945-1965], Warszawa 2003; Architektura w Warszawie. Lata 1965-1989 [Architektur in Warschau. Die Jahre 1965-1989], Warszawa 2005 oder das in Zusammenarbeit mit der Galeria Rasta in Warschau von Łukasz Gorczyca und Marek Czapelski herausgegebene Buch: Mister Warszawy. Architektura mieszkaniowa lat 60. XX wieku [Meister Warschau. Der Wohnungsbau der 1960er Jahre], Warszawa 2012. Verwiesen sei auch auf die Platform „Perly PRL-u“ im Rahmen des Internetportals www.bryla.pl, auf der in einem populärwissenschaftlichen Format einzelne Bauten aus der VR Polen und deren gegenwärtiger Zustand derselben besprochen und dokumentiert wird.