Jan Graf Potocki, ein Spross des polnischen Hochadels, war Ethnograph, Historiker, Geograph, Sprachwissenschaftler, Altertumsforscher, politischer Akteur, Dramatiker, und vieles mehr. Eigentlichen Ruhm hat er als Romanschriftsteller posthum erworben: mit dem labyrinthisch angelegten „Manuscrit trouvé à Saragosse", das er wie seine übrigen Arbeiten und seine Korrespondenz in französischer Sprache zu Papier brachte. Als Offizier in habsburgischen und maltesischen Diensten, als Forscher und als Diplomat bereiste dieser Kosmopolit ganz Europa, das Mittelmeer, Marokko und Ägypten, und schließlich auch Sibirien und die Innere Mongolei. Mit ethnographischen und sprachwissenschaftlichen Studien – sei es in Niedersachsen, im Kaukasus oder in anderen russisch-osmanischen Grenzregionen – erforschte er die Spuren vergangener und Formen gegenwärtiger slawischer Kulturen und entwickelte dabei die retrogressive Methode.
An der Europa-Universität Viadrina hat anlässlich seines 200. Todestages eine internationale und interdisziplinäre Tagung an diesen europäischen Freigeist erinnert. Die erstaunliche Modernität des zwischen Aufklärung und Romantik stehenden Literaten und Wissenschaftlers Jan Potocki zeigt sich u.a. in den von ihm verwendeten Techniken multiperspektivischer Darstellung: im Roman aus den verschiedenen Blickwinkeln der Protagonisten, in der Ethnographie durch die Kombination von Zeugnissen aus Vergangenheit und Gegenwart sowie in der unvoreingenommenen Begegnung mit fremden Kulturen, denen ihre jeweils eigenen Sichtweisen zugestanden werden. Das führte ihn in der Konsequenz zu einem Kulturbegriff jenseits des Eurozentrismus und in einen kulturellen Relativismus, der bis heute als eine Herausforderung und eine Anregung wirkt – von den Wissenschaften bis hin zur Populärkultur, etwa im Kino. Die Konferenzbeiträge haben Potockis Relevanz vor allem auf den Feldern der Ästhetik, der Politik und der Wissenschaften hervorgehoben.
Potocki und die Adelsrepublik
Zum Auftakt wies François Rosset (Lausanne) in seinem Vortrag über „Die Freiheit zu denken" darauf hin, wie unwahrscheinlich es überhaupt gewesen ist, dass Jan Potocki den von ihm beschrittenen Weg genommen hat. Im Polen seiner Zeit war es zunächst schon ein unerhörtes Glück, nicht in den Stand leibeigener Bauern hineingeboren zu werden, und auch nicht in den niederen oder mittleren Adel, sondern als Magnatensohn zu der verschwindend kleinen Elite zu gehören, die Zugang zu einer glänzenden Bildung hatte. Aber auch als junger Adeliger, so Rosset, lebte man nicht ohne weiteres die Freiheit: Man musste sich seiner Freiheit bewusst sein – und die, so Potocki in seinem „Essay d'aphorismes sur la liberté" (1790), sei als eine Wissenschaft zu entwickeln. Im Verlauf des Essays löst er die Freiheit aber zunehmend aus der Strenge der Wissenschaft und nennt sie schließlich eine schwierige Kunst („un art malaisé"). Hier wird die ganze Ambivalenz von Potockis Werk deutlich: Es changiert zwischen Systematik und Skizzenhaftem, zwischen Wissenschaft und Kunst, und zugleich verbindet es diese Pole.
Potocki war sich, so Rosset, der Widersprüche sehr bewusst, die dem eher barocken Streben nach Systematik und Theoretisierung innewohnen. Einerseits arbeitete er lange an einem universalen System für die Jahreszählung seit dem Altertum. Andererseits sah er in der unbefangenen Beobachtung der Phänomene ein probates Mittel gegen die Enge von Systemen und Theorien. Daraus erklärt sich sein Interesse an archäologischen, ethnologischen, historischen, literarischen und künstlerischen Zeugnissen aller Art. Aus der unübersehbaren Vielfalt der Völker und Individuen (und der von ihnen geschaffenen Artefakte) leitete er eine relativistische Auffassung ab: Kein wissenschaftliches System könne die Vielfalt erfassen oder erklären, und Systematisierung bringe unvermeidlich Stereotype hervor. François Rosset zeigte, wie Potocki der so akzentuierten wissenschaftstheoretischen Dichotomie in zwei der Figuren des Romans „Die Handschrift von Saragossa" Gestalt gab: zunächst im pedantischen Tintenmacher Felipe de Avadoro, dessen Tage allesamt demselben mechanischen Ablauf folgen, dessen Tinte aber schließlich so vollkommen ist, dass die Schriftsteller von Madrid nur noch diese haben wollen – so als sei Avadoros Tinte der Ursprung aller gelungenen Literatur. Und dann in seinem Sohn, der das ungeregelte Leben eines noblen Schelms und Herumtreibers führt und ungezählte Abenteuer erlebt, der Abenteuergeschichten hört und andere Menschen damit bereichern wird, nachdem er als Halbwüchsiger in das enorme Tintenfass seines Vaters gefallen ist.
Weniger bekannt als die „Handschrift", aber dennoch wichtig für seine literarische Entwicklung, sind die von Marek Dębowski (Kraków) vorgestellten Theaterstücke Potockis, die sich an dem populären Genre der „parades" orientieren – dabei handelt es sich um kleine Burlesken, die seit dem frühen Barock v.a. in Frankreich vor den Theatern geboten wurden, um Publikum ins Haus zu locken. Mit der im Verlauf des 18. Jahrhunderts zunehmenden Schwäche des Adels für die „Volkskultur" wurden nun Paraden für das aristokratische Publikum geschrieben. Jan Potockis sechs Paraden gehörten zu den ersten Stücken dieser Art, die für ein polnisches Publikum geschaffen wurden, allerdings auch hier in französischer Sprache. Sie wurden ab 1792/93 in den Theatern der polnischen Adelsresidenzen aufgeführt, mit den Aristokraten selbst als Schauspielern, so z.B. der Fürstin Izabela Czartoryska in den „Bohémiens d'Andalousie". In diesen Stücken übte Potocki freie Kritik an den verschiedensten Ständen: am Adel, an der Bigotterie katholischer Geistlicher, an abergläubisch-konservativen Vorstellungen im ländlichen Polen. Motive und Figuren aus seinen Arbeiten wurden von den Dramatikern der polnischen Romantik – allen voran von Aleksander Fredro – übernommen und sehr erfolgreich weiter variiert. Wie im Fall der „Handschrift von Saragossa" ist auch die Überlieferungsgeschichte der Theaterarbeiten romanhaft; z.T. wurden sie in verlassenen Kellern entdeckt, die erst nach der Zerstörung Warschaus 1944 wieder betreten wurden. Eine siebte Parade fand Dominique Triaire noch viel später in Kiewer Archiven wieder.
Potocki nahm nicht nur im kulturellen, sondern auch im politischen Leben der Rzeczpospolita einen eminenten Platz ein. Emiliano Ranocchi (Udine) referierte über eine Entdeckung, die er im Moskauer Archiv der Außenpolitik des Russischen Imperiums (AVPRI) gemacht hatte und die durchaus als sensationell zu bezeichnen ist. Es handelt sich um ein Konvolut an Briefen, die Jan Potocki im Jahre 1806 verfasst hatte – einem Jahr, aus dem bisher nur zwei seiner Schreiben bekannt waren. Ein Teil dieser Briefe ist an Andrej Jakovlevič Budberg adressiert, der Adam Czartoryski als Außenminister des Russischen Reiches unter Alexander I. folgte. Darin entwickelt Potocki ein politisches Manifest für den Ausbau von Russlands Einflusssphäre im Osten und Süden zu einem „asiatischen System". Da Budberg diese – geheimen – Briefe an Alexander I. weitergeleitet hat, ist vom Versuch einer direkten Einflussnahme Potockis auf die Außenpolitik auf höchster Ebene auszugehen.
Besondere Aufmerksamkeit widmete Ranocchi drei im Dezember des Jahres 1806 verfassten Briefen. In ihnen wird unter dem Titel „Reflexions sur l'influence de la politique asiatique dans les circumstances actuelles" eine neue Ausrichtung der russischen Außenpolitik angedeutet. Potocki geht davon aus, dass die europäischen Mächte zu einem dynamischen Gleichgewicht neigen, so dass sich auf dem Kontinent periodisch „ausgewogene Erfolge" („succès balancés") einstellen. Erreichen Frankreich und Russland – also die größten europäischen Landmächte – dieses dynamische Gleichgewicht, könne eine störende Übermacht nur auf außereuropäischem Terrain drohen. Wegen des französischen Engagements in Ägypten empfiehlt Potocki deshalb ein aktiveres Eingreifen Russlands in der Türkei. Auch wenn in diesem Briefen das „asiatische System" von Potocki nicht en détail ausgearbeitet wurde, werfen die entdeckten Dokumente ein wichtiges Schlaglicht auf die Entwicklung von Potockis politischen Ambitionen.
Jan Potocki gehörte immerhin zu der überaus begüterten Hochadelsschicht der Magnaten. Wie Werner Benecke (Frankfurt/O.) ausführte, beherrschte diese Elite trotz der weiterhin gepflegten Fiktion absoluter Gleichheit aller Adligen die politischen Entscheidungsprozesse. Die Adelsrepublik in Polen (genauer gesagt in der Union aus Polen und Litauen) hatte diesem Stand seit dem 14. Jahrhundert eine enorme Privilegierung beschert, was ihn gegenüber den übrigen Ständen und gegenüber einer immer schwächer werdenden Königsmacht heraushob. Allerdings bildete gerade die polnische Aristokratie eine in sich sehr heterogene Gruppe. Angesichts der viel bescheideneren Ressourcen des mittleren und niederen Adels waren die Magnaten spätestens im 18. Jahrhundert zu den faktischen Herrschern des Landes geworden. Diese besondere innenpolitische Situation Polens eröffnete den im inneren Aufbau ganz anders konstruierten absolutistischen Mächten Preußen, Österreich und Russland Einfluss auf die polnische Politik, die – auch wegen Interessengegensätzen innerhalb des Hochadels – zunehmend reaktionsunfähig wurde. Zunächst betrieben die drei Mächte über Jahrzehnte ein gemeinsame Steuerung, gaben dann aber einer unmittelbaren Reduktions- und letztlich Aufteilungspolitik den Weg frei.
Diese Entscheidungen und auch Potockis Überlegungen werden erst im europäischen Kontext erklärbar, in dem vermeintlich periphere Veränderungen wie der Siebenjährige Krieg (1756-1763) ebenso betrachtet werden müssen wie der russisch-osmanische Dauerkonflikt seit dem frühen 18. Jahrhundert. Potockis publizistisches und politisches Engagement im Umfeld der Teilungen Polens ist ein bemerkenswertes, aber nicht eben dominantes Tätigkeitsfeld dieser überaus vielschichtigen und komplizierten historischen Persönlichkeit.
Die Handschrift von Saragossa
Wie zu erwarten, nahm die „Handschrift" einen prominenten Platz im Tagungsprogramm ein, wobei sowohl die inhaltlichen als auch die formalen Elemente des Textes diskutiert wurden.
Auf die zentrale Bedeutung des Avadoro in der Erzählstruktur der „Handschrift von Saragossa" wies Klaus Weber (Frankfurt/O.) hin. Ein Großteil der über 30 im Roman auftretenden Erzähler und Erzählerinnen sind Protagonisten der Geschichten, die Avadoro selbst erzählt. Diese sind über bis zu fünf verschiedene Erzählebenen ineinander verschachtelt – so wie auch die Abenteuer der eigentlichen Hauptperson Alphons van Worden und der ihm begegnenden Figuren, die ihrerseits weitere Geschichten hervorbringen. So erzeugt der Autor beim Leser ein ähnliches Schwindelgefühl wie beim Helden Alphons, der bald den Realitätsgehalt des von ihm Erlebten und der gehörten Geschichten bezweifelt. Dieses Spiel trieb Jan Potocki auf die Spitze, indem er seine fintenreichste Figur – die untreue Frasquita – einen Grafen Peña Flor erfinden lässt, an dessen Existenz ihr gehörnter Gatte aber glaubt und der den Gatten deshalb um den Verstand bringen kann. In der Verfilmung des Romans wird dieser Erzählstrang weitergedreht, bis zur Ermordung des Gatten durch ebendiesen Halunken, den der Eifersüchtige eigentlich auf den fiktiven Grafen angesetzt hatte. Peña Flor ist zudem in den Handlungsknoten geflochten, an dem Figuren aus drei verschiedenen diegetischen Ebenen zu Zeugen eines Fenstersturzes werden, der aus ihren verschiedenen Perspektiven jeweils anders gedeutet wird. Potocki erzeugt aus diesem Moment eine große Komik, aber zugleich versteckt er darin eine Universalismus- und Religionskritik. An anderen Knotenpunkten erzeugt er Tragik: Das Leben der Protagonisten wird durch absurde Missverständnisse und Fehldeutungen zerstört. Das Vertrauen in eine allgemeingültige Wahrheit wird in der „Handschrift" nicht nur durch Versatzstücke aus Schauer- und Gespensterromanen ironisiert; die multiperspektivische Erzählstruktur stellt dieses Vertrauen prinzipiell in Frage.
Lena Seauve (HU Berlin) beschäftigte sich mit den weiblichen Binnenerzählerinnen in Potockis „Handschrift". Dabei verfolgte sie die These, dass die fingierten weiblichen Erzählerinnen in Potockis Roman – wie auch in anderen Texten des 18. Jahrhunderts, z.B. Diderots „La Religieuse" – zwar einerseits als scheinbar passive Zeuginnen auftreten, die ihre eigene Erzählung nicht aktiv gestalten, dass andererseits ihre Zeugenberichte jedoch einem klaren Zweck dienen, nämlich der Verführung des männlichen Zuhörers/Rezipienten. Weibliche Erzählerinnen erzählen, durchaus in der Tradition des erotischen Romans der Aufklärung, immer für einen Adressaten, häufig ist die Erzählsituation auch auf der Ebene der Diegese eine Situation der Intimität. Die Naivität der Erzählerinnen in erotischen Belangen ist jedoch nur eine vorgetäuschte. Fingiertes weibliches Erzählen weise, so die Referentin, bei Potocki eine vierfache Verführungsstruktur auf: Die Erzählungen handeln von erotischen Begegnungen, sie spiegeln solche in der Situation ihrer fiktional inszenierten Vermittlung wider (Frauen erzählen Männern, um sie zu verführen), sie nehmen intertextuell Bezug auf erotische Texte und schaffen beim Rezipienten Lust am Text. Allerdings bleibt die Tatsache bestehen, dass es sich lediglich um eine fingierte weibliche Erzählperspektive handelt. Die tatsächliche Machtlosigkeit der Erzählerinnen werde dabei letztendlich offenbar durch die finale Bestätigung der Machtposition der Gomelez, die die Erzählerinnen als Schauspielerinnen zu ihrem Zweck eingesetzt haben.
Auf das Schillernde und Hybride in Potockis literarischen Arbeiten ging Kirsten von Hagen (Gießen) tiefer ein. Sein Theaterstück „Les bohémiens d'Andalousie" ist eigentlich dem Vaudeville zuzurechnen, aber seine durchgehende Doppelbödigkeit wurde später so sehr übersehen, dass man es bisweilen als schlecht geratenes Rührstück missverstanden hat. Auch die „Handschrift" vereint Merkmale der Gothic novel, des Schelmenromans, Ritterromans, Bildungsromans sowie des erotischen Romans und weiterer Gattungen. Hybrid ist nicht nur das Genre, sondern auch die auftretenden Figuren, allen voran Avadoro, der als Zigeuner auftritt, sich aber zuletzt als Edelmann zu erkennen gibt, der zudem im Dienste des Scheichs aus der Dynastie der Gomelez steht – jener maurischen Familie, mit der Alphons van Worden ohne sein Wissen verwandt ist. Wie bereits François Rosset, so sah auch von Hagen in Avadoro die Figur, in der die Struktur dieses Textes reflektiert ist. Er verkörpert zudem ein orientalisches Element dieser Struktur, nämlich das orale Erzählen nach dem Muster von „Tausendundeiner Nacht". Doppelbödig ist auch die Welt, in der die Protagonisten des Romans sich bewegen müssen: Meist unfreiwillig überschreiten sie immer wieder die Grenzen zwischen wirklicher Welt, Traumwelt und einer phantastischen Sphäre von Geistern, Dämonen und Untoten.
In seinem Vortrag hat Paweł Świątek (Wrocław) seinen ‚praktischen' Zugang zur „Handschrift von Saragossa" erläutert: Als Regisseur hat er Potockis Text zusammen mit Mateusz Pakuła für die Bühne adaptiert und 2014 im Kochanowski-Theater in Opole uraufgeführt. Als Faszinosum der „Handschrift" erwiesen sich für ihn die geschickt konstruierten metapoetischen Ebenen des Textes, in denen er Analogien zur Funktionsweise der (postmodernen) Popkultur ausgemacht hat. Dabei geht es nicht um thematische oder ästhetische Momente der „Handschrift", sondern um ihre Geste der (medialen) Verwicklung diegetischer Ebenen, der nichtessentialistischen Identitätskonstruktionen, multiperspektivischen Narration und der polyvalenten Interpretationsmöglichkeiten, die der Text dem Leser bietet.
Als thematische Kernpunkte für die Bühnenadaption wählte Świątek aus Potockis Roman die Dekonstruktion des Sakralen sowie den Umgang mit dem kulturell/sexuell/politisch Anderen. Angesichts von Xeno- und besonders Islamophobie haben diese beiden Themenfelder eine beunruhigende Aktualität gewonnen, nicht nur im heutigen Polen, sondern in ganz Europa. Aber auch Potockis Spiel mit Sexualität an der Grenze zwischen Erlaubtem und Tabuierten scheint selbst zweihundert Jahre nach dem Entstehen der „Handschrift" noch einen starken Reiz auszuüben. Auch diese Ambivalenz des Romans zwischen Subversion und Affirmation ist für Świątek ein Merkmal der Popkultur, wobei er etwa auf die Verwendung faschistoider Ästhetik bei Bühnenperformances von Lady Gaga und in Filmen von Quentin Tarantino verweist.
Reiseberichte und historische Arbeiten
Als drittes Themenfeld der Tagung können neben den Reiseberichten Potockis seine historischen Methoden gelten.
Zygmunt Kłodnicki (Katowice) befasste sich in seinem Vortrag mit der sogenannten retrogressiven Methode der Geschichtswissenschaft, die Jan Potocki, wenn nicht erfunden, so doch in der polnischen Geschichtsschreibung prominent angewendet hat. Ihr liegt die Annahme zugrunde, dass es in jeder Kultur gewisse Elemente gibt, die als Belege für die Existenz früherer Phänomene gelten können, auch wenn direkte Quellen dafür fehlen. Das klassische Beispiel sei die Onomastik, die Rückschlüsse auf die ethnische Zugehörigkeit der autochthonen Bevölkerung erlaube, ohne dass es dafür weitere Nachweise gebe. Auf die retrogressive Methode greift der Historiker also dann zurück, wenn er von einer jüngeren Epoche mit reichhaltiger Quellenlage zu vorangegangenen Epochen mit ärmerer Quellenlage schreiten kann. Wie Kłodnicki betont, hatte Jan Potocki die retrogressive Methode gerade bei seinem langjährigen Projekt zur Geschichte der Sarmaten angewandt, vor allem im „Essai sur ľhistoire universelle et recherches sur celle de la Sarmatie" (1789). Auch wenn diese Methode auf Hypothesen angewiesen und deshalb höchst spekulativ ist, hatte Potocki einen wichtigen Beitrag für die aufgeklärte Geschichtsschreibung seiner Zeit geleistet, indem er die halbmythischen Sarmaten auf wissenschaftlich gesicherte Tatsachen zurückführen wollte. Laut Kłodnicki hat die retrogressive Methode nicht nur einen historischen, sondern auch einen methodologischen Wert. Unter gewissen Rahmenbedingungen bietet sie auch heute in der Ethnographie oder der Folkloreforschung eine unentbehrliche Grundlage, vor allem wenn sie aus anderen Disziplinen wie Archäologie oder Linguistik flankiert werden kann. So gesehen war Jan Potocki überraschend modern, als er für seine Sarmatenforschung ebenfalls einen interdisziplinären Zugang wählte. Bei der kritischen Sichtung der historischen Quellen hat er Wissensbestände aus der Geographie oder Ethnologie besonders berücksichtigt.
Besonders weit trieb Potocki die Empirie bei seinen Forschungen zur slawischen Frühgeschichte, wie Helga Schultz (Frankfurt/O.) zeigte. Von Mecklenburg bis zu den südlichen Grenzregionen der Ukraine suchte er nach Zeugnissen dieser Geschichte. Dahinter stand auch die patriotische Absicht einer Stärkung des polnischen National- und Selbstbewusstseins, gerade angesichts zunehmender Begehrlichkeit der drei großen Nachbarn Russland, Österreich und Preußen. Gerade recht kamen ihm dabei die archäologischen Funde, die seit den 1760er Jahren vermehrt in Mecklenburg gemachten wurden, die sogenannten Prillwitzer Idole: in Metall gegossene sakrale Figuren und Gerätschaften, die er bei seiner Reise von 1794 studierte und die in seiner „Voyage dans quelques parties de la Basse-Saxe" als Belege der vorchristlichen slawischen Kultur angeführt werden. Schon in den 1770er Jahren hatten einige Altertumsforscher Zweifel an der Echtheit der in immer größerer Zahl geborgenen Objekte geäußert, doch Potocki ging kaum darauf ein. Erst Jahrzehnte später konnte materialtechnisch nachgewiesen werden, dass die Stücke von einem Neubrandenburger Goldschmied gefälscht worden waren. Dennoch, so Helga Schultz, dürfe Potocki als ein früher Pionier der intensiven Forschungen zur Geschichte der Slawen zwischen Elbe und Oder gelten. In Kooperation mit polnischen Archäologen und Frühgeschichtsforschern wurden sie insbesondere von der Akademie der Wissenschaften der DDR vorangebracht.
Auch Erik Martin (Frankfurt/O.) sieht Jan Potockis Reiseberichte aus Norddeutschland („Voyage dans quelques parties de la Basse-Saxe", 1794) und aus dem Russischen Reich („Voyage dans les steps d'Astrakhan et du Caucase", 1797) als Teil eines politischen Projekts. Martin kontrastierte die eher idyllische Slavophilie eines Aleksei Chomjakov oder Ivan Kireevskij mit dem deutlicher imperial gefärbten Panslavismus, der trotz einer stark russischen Komponente auch in Polen Unterstützung fand, so zeitweise durch Potockis Zeitgenossen Fürst Adam Czartoryski. Die beiden durch das 19. Jahrhundert hindurch parallelen und zumindest in ihren Ursprüngen unverbundenen Strömungen sind in Potockis Schriften ineinander verwoben. Als Ursprung der Slavophilie werden meist J.G. Herders „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit" angeführt. Wesentliche Versatzstücke sind aber schon in dem bis auf das 15. Jahrhundert zurückreichenden Sarmatismus zu finden, einem Geschichtsmythos bzw. einer Ideologie, die dem ethnisch und kulturell heterogenen Raum des alten Polen eine die Differenzen geschickt umspielende, halb-europäische Identität verlieh. Potocki beschwor in suggestiver Weise einen sarmatischen Raum, der von der Elbe bis zum Dnister reiche, charakterisiert durch die den Sarmaten seit jeher zugeschriebene Friedlichkeit und Idylle. Wo archäologische Funde (wie die Prillwitzer Idole) oder andere historische Belege für diese Konstruktion unsicher sind, behalf Potocki sich mit einer ästhetischen Argumentation, häufig in Bezug auf die Landschaft, die aber – so betonte Martin – immer nur subjektiv wahrgenommen werden kann. Dieses Sarmatien war für Potocki in weiten Teilen überlagert vom russisch-imperialen Raum, der zugleich über fluide Grenzlinien hinweg nach Asien und in den Kaukasus reichte und der eine Bedingung für die von Potocki studierte Vielfalt war. Seine Ethnographie sei geradezu die Legitimierung eines nicht-essentialistischen Imperialismus gewesen.
Vadym Adadurov (Lwiw) beleuchtete in seinem Vortrag einige Aspekte des Orientalismusdiskurses im ausgehenden 18. Jh. anhand zweier Reiseberichte: der „Voyage en Égypte et en Syrie" (1787) des französischen Orientalisten und Geschichtsphilosophen Constantin Francois Volney sowie Jan Potockis „Voyage en Turquie et en Egypte" (1788). Obwohl nahezu gleichzeitig erschienen, sind beide Texte unabhängig voneinander entstanden und können gerade deshalb als typischer Ausdruck einer Orientmode angesehen werden, die spätestens seit den „Persischen Briefen" Montesquieus (1721) europaweit verbreitet war.
Bei seiner Lektüre unterstrich Adadurov besonders die Stellen beider Texte, die den typischen Topoi des Orientalismus entgegenstehen. So betonte er, dass beide Forscher sich durchaus für die muslimische Gegenwart der bereisten Länder interessierten und sie nicht ausschließlich vor der Kulisse der ägyptischen Geschichte (Pyramiden!) als ein Verfallsprodukt darstellten (was etwa Edward Said als ein Charakteristikum des Orientalismusdiskurses bezeichnete). Dem ethnographischen Interesse beider Autoren steht auch ihre Bemühung um Objektivität zur Seite, auch wenn diese sich zuweilen als rein ästhetische Abwehrgeste gegen bestehende literarische Repräsentationen des Orients geriert. Doch gerade diese literarische Aufgeschlossenheit, ihr Bemühen um neue und originelle Beschreibungen, ermöglicht es beiden Autoren, außergewöhnliche Korrespondenzen zwischen „Orient" und „Okzident" zu bemerken. Beide entziehen sich den verbreiteten asymmetrischen Wahrnehmungsmustern und den bereits entwickelten orientalistischen Beschreibungsmustern. Dennoch, so Adadurov, reproduzieren beide Texte gewisse Topoi des Orientalismus, wenn etwa westliche Wissenschaft resp. Rationalismus dem orientalen Aberglauben entgegengesetzt wird. Dabei merkt Adadurov an, dass sich Potocki nicht zuletzt wegen seiner Doppelidentität als Pole und Franzose gegenüber solch pauschalen Identitätszuschreibungen grundsätzlich kritischer zu verhalten scheint.
Im Zeichen des Orientalismus steht auch der von Annette Werberger (Frankfurt/O.) vorgestellte tagebuchartige Bericht Potockis von seiner 1791 unternommenen Reise durch Marokko, der letzten seiner drei Afrika-Fahrten. Selbstbewusst hob der Autor hervor, dass seine Reise ganz zweckfrei und sein Bericht gerade deshalb „nicht ganz uninteressant sein" werde: Ihm ging es weder um Feldforschung und Wissensanhäufung wie bei Zeitgenossen vom Schlage eines Alexander von Humboldt, noch um Exploration und Kartierung wie bei Mungo Park und späteren Europäern, die mehr oder weniger explizit die koloniale Erschließung des Kontinents vorbereiteten. Potockis Blick auf Menschen, Sitten und Gebräuche war ergänzt durch die Sichtweisen muslimischer wie sephardischer Marokkaner auf Europa. Damit griff er das Thema von Montesquieus „Persischen Briefen" (1721) oder der „Marokkanischen Briefe" von Johann Pezzl (1784) auf – mit dem Unterschied, dass seine Gewährsleute nicht fiktiv, sondern höchst real waren. Vor Eurozentrismus war Potocki auch deshalb einigermaßen gefeit, weil die Polen selbst sich eher am Rande Europas sahen und ihr damals sehr ausgedehntes Territorium im Süden in muslimisch geprägte Regionen überging. In Marokko schätzte Potocki z.B. die wohltuende Langsamkeit, mit der das Leben dort dahinfließe. Die Muslime hätten eben keine Vorstellung von der Ungeduld, einer Untugend der „Eingeborenen in Europa". Gleiches galt ihm für die Langeweile, die nur Europäer empfinden, weil Beschäftigung ihnen schon in der Schule als ein unstillbares Bedürfnis eingebläut werde. Potocki lieferte also keine Essentialisierung, sondern er erklärte kollektive Eigenschaften gewissermaßen soziologisch, in diesem Fall als Wirkungen eines europäischen Erziehungssystems.
Organisation
Prof. Dagmara Jajeśniak-Quast, Europa-Universität Viadrina
Prof. Klaus Weber, Europa-Universität Viadrina
Prof. Marek Dębowski, Uniwersytet Jagielloński, Kraków
Dr. Lena Seauve, Humboldt-Universität zu Berlin
Veranstalter
Zentrum für Interdisziplinäre Polenstudien
Europa-Universität Viadrina
Förderer
Deutsch-Polnische Wissenschaftsstiftung
Viadrina Center B/ORDERS IN MOTION
Humboldt-Universität zu Berlin