Im Juli 2013 wurde am renommierten St. Antony´s College der Universität Oxford der Forschungsschwerpunkt „Programme on Modern Poland" (POMP) eingerichtet, um Studien und Diskussionen zu intensivieren, die das postkommunistische Polen zum Thema haben. Am 11. und 12. Juni 2015 wurde im Rahmen dieses Programms eine Konferenz ausgerichtet, die 17 Doktoranden und Postdoktoranden von europäischen und amerikanischen Universitäten zusammen brachte. Im Mittelpunkt standen die sozio-ökonomischen, politischen und kulturellen Transformationsprozesse, die Polen seit dem Zweiten Weltkrieg und insbesondere nach 1989 grundlegend verändert haben. Bei sechs Panels hatten die Teilnehmer aus Polen, England, Schottland, Deutschland und den USA die Möglichkeit, ihre Forschungsprojekte zu präsentieren und diskutieren. Kommentiert wurden die einzelnen Arbeiten von erfahrenen Experten aus dem Bereich der Polenstudien.
Die einzelnen Panels thematisierten Veränderungen im politischen und gesellschaftlichen Bewusstsein am Beispiel zentraler Wendepunkte der polnischen neuesten Geschichte nach 1945. Dabei wurden sowohl biografische als auch strukturelle Ansätze verfolgt. Ebenso standen transnationale Kontakte im ökonomischen und kulturellen Bereich im Mittelpunkt. Insbesondere die letzten beiden Podien konzentrierten sich auf jüngste gesellschaftliche Entwicklungen in Polen nach 1989.
Deutlich wurde die enorme Bandbreite der Polenstudien, die notwendigerweise alle Lebensbereiche einer sich rasch modernisierenden Gesellschaft umfassen. Der Schwerpunkt der Konferenz lag dabei auf historischen sowie soziologischen Themen. Ökonomische und politische Fragen wurden mittelbar angesprochen, so dass die große Bandbreite interdisziplinäre Diskussionen ermöglichte.
ANNABELLE CHAPMAN (Oxford) stellte in ihrem Vortrag die allgemeinen historischen Hintergründe der Aneignung der sogenannten „wiedergewonnenen Gebiete" dar. Dabei thematisierte sie insbesondere die Rolle von Historikern bei der Ausbildung einer polnischen Identität in Breslau und Niederschlesien. Im Mittelpunkt des Vortrags von PIOTR LEŚNIAK (Edinburgh) standen Warschau und seine Archivlandschaft. Aus der Sicht eines Architekten verkörpern Archive Stadtgeschichte in der urbanen Topografie. Anhand von Stadtplänen, Bauskizzen sowie Ausstellungsräumen und Exponaten schlug er einen weiten thematischen Bogen. Im dritten Vortrag dieses Podiums kehrte VASCO KRETSCHMANN (Berlin) inhaltlich nach Breslau und zur musealen Darstellung der wechselvollen Stadtgeschichte im 20. Jahrhundert zurück. Natürlich stellte das Jahr 1945 den deutlichsten Bruch dar, aber auch die Jahre nach dem Ersten Weltkrieg sowie 1956 und 1989 hatten Auswirkungen auf die Ausstellungen der Stadtmuseen. Er betonte, dass Museen dabei keineswegs nur Lagerstätten von Kulturgütern der Stadtgeschichte, sondern vielmehr eigenständige Akteure bei der Interpretation von Geschichte waren und sind.
Das zweite Panel wurde von FALK FLADE (Frankfurt/Oder) mit einer Darstellung der polnisch-sowjetischen Beziehungen im Bereich der Atomenergie eröffnet. Der thematische Überblick reichte von den Anfängen in den 1950er Jahren im Bereich der Forschung über eine intensivierte ökonomische Zusammenarbeit in den 1970ern bis zu den gescheiterten Bauversuchen des ersten polnischen Atomkraftwerkes in den 1980er Jahren. Auch die aktuellen AKW-Baupläne wurden im Vortrag berücksichtigt und wurden aufgrund vorhandener Pfadabhängigkeiten in den historischen Kontext eingeordnet. KATARZYNA JEŻOWSKA (Oxford) besprach die erste Ausstellung der polnischen Leichtindustrie im September 1949 in Moskau. Dabei ging sie insbesondere auf die Diskrepanz zwischen der Darstellung des tatsächlich existierenden sowie des gewünschten Produktions- und Lebensniveaus im Polen der Nachkriegszeit ein. Anhand schriftlicher und visueller Materialien zeigte sie, wie die Ausstellungsmacher Informationen zum Gastland Polen geschickt mit kommerziellen Motiven kombinierten. PRZEMYSŁAW GASZTOLD-SEŃ (Warschau) gab in seinem Vortrag einen Einblick in die Rüstungsgeschäfte des kommunistischen Polens. Am Beispiel geheimer Waffenlieferungen nach Libanon und an andere Staaten und Regime in Asien und Afrika zeigte er, wie sich die polnischen Rüstungsexporteure dank informeller Netzwerke gelegentlich auch über ideologische Grenzen hinwegsetzten. Dabei spielten zumeist ökonomische Interessen die ausschlaggebende Rolle.
Der erste Vortrag des dritten Podiums von NGUYEN VU THUC LINH (Florenz) beschäftigte sich mit den politischen Biografien von Jacek Kuroń und Karol Modzelewski. Besonderes Augenmerk legte Linh auf die Interpretation des „Offenen Briefes an die Partei" von 1964, der den beiden jungen Aktivisten Haftstrafen und das Label des Revisionismus einbrachte und ihren Mythos als Oppositionelle begründete. RACHEL ROTHSTEIN (Florida) thematisierte das Schicksal der jüdischen Polen nach der antijüdischen Kampagne von 1968. Sie vertrat den Standpunkt, dass die polnische Regierung auch nach 1968 aufgrund außenpolitischer Zwänge an einem Fortbestehen der jüdischen Minderheit interessiert gewesen sei. Insbesondere jüdischen Verbänden aus den USA sei es gelungen, ökonomischen Druck auf die polnische Führung aufzubauen und so die verbliebene jüdische Bevölkerung in Polen zu stabilisieren. Anschließend ging JAKUB SZUMSKI in seinem Vortrag auf den vermeintlichen Gegensatz zwischen der polnischen Staatspartei PZPR und der freien Gewerkschaft Solidarność ein. Anhand der Biografien von Stefan Bratkowski, Zbigniew Iwanów und Zofia Grzyb zeigte er, wie unterschiedlich einzelne Individuen mit dieser Diskrepanz umgingen, wobei man zumindest teilweise von fließenden Übergänge ausgehen könne.
Podium fünf behandelte die Biografien zweier Intellektueller, die in der polnischen Öffentlichkeit große Aufmerksamkeit erfahren haben. HUBERT CZYŻEWSKI (Oxford) sprach zu dem Philosophen und Essayisten Leszek Kołakowski. Insbesondere dessen religionswissenschaftlichen Arbeiten standen im Mittelpunkt seines Vortrags. DARIUSZ BRZEZIŃSKI (Warschau) konzentrierte sich auf den Soziologen Zygmunt Bauman und dessen Interpretationen der Ereignisse der Jahre 1956, 1968, 1980 und 1989. Unter anderem kam er zu dem Schluss, dass vor allem jene Werke Baumans, die vor seiner erzwungenen Emigration verfasst wurden, wichtige Interpretationen der gesellschaftlichen Prozesse in Polen darstellten.
Das sechste Podium widmete sich Prozessen im postkommunistischen Polen. ANNA GROMADA (Warschau) analysierte in ihrem Vortrag das Absinken der Fertilitätsrate in Polen nach 1989. Den signifikanten Rückgang stellte sie in Zusammenhang mit einem nach wie vor vorherrschenden Konservatismus in Polen, der aber immer weniger der Lebenswirklichkeit entspräche. Innerhalb der jüngsten Kohorten konstatierte sie bereits eine Trendwende hin zu einer wieder ansteigenden Fertilitätsrate. ANNA BACZKO-DOMBI (Warschau) erläuterte die Panelstudie POLPAN, die seit 1988 in Abständen von fünf Jahren durchgeführt wird. Diese Langzeitstudie liefert wichtiges Datenmaterial für soziologische Untersuchungen, stellt die Statistiker aber auch immer wieder vor große methodische Herausforderungen. Auch ILONA WYSMUŁEK (Warschau) bezog sich in ihrem Vortrag auf die POLPAN-Panelstudie. Die Befragungsergebnisse wertete sie unter dem Aspekt der Wahrnehmung von Korruption in der polnischen Gesellschaft aus. Daneben konnten auch anschließende Fragen zum allgemeinen Politikvertrauen im Zeitverlauf erfasst werden.
Das sechste und letzte Podium wurde von NATASHA OXLEY (Oxford) eröffnet, die Modernisierungsprozesse innerhalb der polnischen Gesellschaft auf der Grundlage aktueller polnischer Bühnenstücke thematisierte. Dabei berücksichtigte sie insbesondere die Darstellung und Interpretation der polnischen Identität in Stücken von Paweł Demirski, Dorota Masłowska, Małgorzata Sikorska-Miszczuk und Przemysław Wojcieszek. Anschließend richtete KINGA KOZMINSKA (Oxford) ihre Aufmerksamkeit auf die polnische Bevölkerung in Großbritannien und deren Selbstverortung zwischen Heimat und Gastland. Auf der Grundlage von Interviews mit 30 jungen in England lebenden Polen unterschied sie zwischen zwei Kategorien transnationaler Identitäten mit stärker bzw. schwächer ausgeprägtem Bezug zum Heimatland sowie einer Zwischengruppe. Schließlich thematisierte ANNA JAGIELSKA (Frankfurt/Oder) kontroverse Äußerungen von Vertretern der polnischen katholischen Kirche im Kontext der seit Jahren andauernden Gender-Diskussion. Die verbalen Attacken interpretierte sie als Widerstand einiger Kirchenvertreter gegen das schnelle Fortschreiten von Säkularisierung und Modernisierung in Polen.
Die überarbeiteten Konferenzbeiträge werden im Rahmen der POMP-Arbeitspapiere in den kommenden Monaten digital veröffentlicht. Im kommenden Jahr ist eine Fortsetzung des Konferenzformats von den Organisatoren um Dr. Mikołaj Kunicki geplant. Hoffentlich empfängt die ehrwürdige Universitätsstadt Oxford die teilnehmenden Nachwuchswissenschaftler auch dann mit strahlendem Sonnenschein, wie es im Juni 2015 der Fall war.
Konferenzübersicht:
Donnerstag, 11.06.2015
Podium 1: Places and Local Identities
Moderation und Kommentare: Dr. Robert Pyrah (University of Oxford)
Annabelle Chapman (University of Oxford): Becoming Lower Silesian. The Wrocław historians and identity in transformation (1945-1956).
Piotr J. Leśniak (University of Edinburgh): Exhibition as Archive. On Warsaw´s post-war Imaginary.
Vasco Kretschmann (Freie Universität Berlin): The triple re-invention of Wrocław in its exhibitions during the 20th century.
Podium 2: Exchanges of Goods and Knowledge: East and West, North and South
Moderation und Kommentare: Prof. Paul Betts (University of Oxford)
Falk Flade (Universität Frankfurt/Oder): Nuclear Energy in Poland and the Polish-Russian Relations (1955-2014).
Katarzyna Jeżowska (University of Oxford): „The truthful image of our present, as we wold like to see it". Polish industrial exhibitions abroad between the 1940s and the 1970s.
Przemysław Gasztold-Seń (Instytut Pamięci Narodowej): Between non-refundable aid and economic profits. Export of arms from the Polish People's Republic's to the Third World countries.
Podium 3: Evolution of Political Identities in People's Poland
Moderation und Kommentare: Prof. Jan Kubik (University College London)
Nguyen Vu Thuc Linh (European University Institute): The other Political Opposition. Kuroń, Modzelewski and the prehistory of 1964.
Rachel Rothstein (University of Florida): "Byliśmy, Jesteśmy, Będziemy". Jewish Life in Poland after 1968.
Jakub Szumski (Polska Akademia Nauk): The Part, Solidarity or both? Transformation of political identities in 1980-81.
Podium 4: Public Intellectuals and Thinkers
Moderation und Kommentare: Dr. Mikołaj Kunicki (University of Oxford)
Hubert Czyżewski (University of Oxford): Leszek Kołakowski as a religious thinker.
Dr. Dariusz Brzeziński (Polska Akademia Nauk): Turning-points of 1956, 1968, 1980, 1989 in the works of Zygmunt Bauman.
Freitag, 12.06.2015
Podium 5: Transformation and the Social Changes
Moderation und Kommentare: Prof. Ann White (University College London)
Anna Gromada (Polska Akademia Nauk): What does the current demographic crisis tell us about post-communist Poland? Transformations of the social, the economic and the intimate.
Anna Baczko-Dombi (Polska Akademia Nauk): Studies on the dynamics of changes in the Polish society through the past 25 years on the example of Polish Panel Survey POLPAN 1988-2013.
Ilona Wysmułek (Polska Akademia Nauk): Corruption during transformations of Polish society: survey data analysis of perceived changes and their determinants.
Podium 6: Projections of Transformation and the post-1989 Poland
Moderation und Kommentare: Prof. Anna Reading (King's College London)
Natasha Oxley (University of Oxford): Modernisation of Polish identities in contemporary Polish playwriting: Demirski, Masłowska, Sikorska-Miszczuk and Wojcieszek.
Kinga Kozminska (University of Oxford): Language ideologies and gender in the modern Polish community in the UK.
Anna Jagielska (Universität Frankfurt/Oder): „The ideology of gender presents a threat worse than Nazism and Communism combined". Polish Catholic discourse on gender equality in the face of social and cultural changes in Poland.