Beigetragen von: Bozhena Kozakevych
Redaktionell betreut von: Lehrstuhl Entangled History of Ukraine
In meiner Berliner Wohnung steht ein Bücherregal mit den wichtigsten Werken aus der ukrainischen intellektuellen Geschichte. Sie stammen aus dem Nachlass meines Vaters und sind mir von meiner Mutter aus Lviv geschickt worden. So erinnert mich mein neues Zuhause ein wenig an das Zuhause meiner Kindheit. Mein Vater kaufte diese Bücher Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre – die ersten Ausgaben dieser Bände in der Ukraine, nachdem sie unter der sowjetischen Zensur jahrzehntelang verboten gewesen waren. So unsichtbar diese Werke im sowjetischen Narrativ waren, so war auch die Ukraine als eigenständiges Subjekt auf der mentalen Landkarte Europas nicht existent.
Diese kognitive Lücke in der deutschsprachigen Öffentlichkeit hat erst die vollumfängliche Invasion Russlands in die Ukraine wieder ins kollektive Bewusstsein gerufen – und viele zu der selbstredenden Feststellung kommen lassen, dass es in den deutschsprachigen Ländern bis dato viel zu wenig Wissen über das zweitgrößte Land Europas gebe bzw. vermittelt werde.
Die Vielfalt der ukrainischen Kultur, Literatur und die verflochtene ukrainische Geschichte sollten jedoch nicht im Schatten dieses Krieges stehen. Wo kann man ansetzen, um das Wissen über die Ukraine zu vertiefen oder überhaupt erst zu schaffen? Denkbar wäre natürlich, dies bereits in der Schule zu tun. Diesem Thema widmete sich der Münchner Workshop „Wie kann ukrainische Geschichte in Deutschland, Polen und anderen europäischen Ländern unterrichtet werden?“. An der Universität Bielefeld fand wiederum ein Austausch über die Vermittlung ukrainischer und osteuropäischer Themen an Universitäten statt. Welche Perspektiven eröffnen Lehrveranstaltungen zu ukrainischen Themen und vor welchen Herausforderungen stehen die Lehrenden?
Hintergründe
In der modernen Wissenschaft gibt es die Tendenz, aus einer globalen, transnationalen und interdisziplinären Perspektive zu forschen und zu lehren. Jedem Verdacht, in nationale Kategorien zurückzufallen, wird mit großem Misstrauen begegnet. Grundsätzlich ist dies ein durchaus legitimer und richtiger Ansatz, doch fehlt oft das Wissen über einzelne Regionen, und Geschichte(n) wird (werden) oft aus westlicher Perspektive erzählt. Ein Beispiel dafür sind die drei von Pim den Boer, Heinz Duchhardt, Georg Kreis und Wolfgang Schmale herausgegebenen Bände Europäische Erinnerungsorte. Es handelt sich um ein lobenswertes Projekt, und es ist verständlich, dass es bei einem Projekt dieser Größenordnung unmöglich ist, alles zu berücksichtigen. Zwar bemühen sich die Herausgeber auch um die Einbeziehung „osteuropäischer“ Themen, doch überwiegen deutlich die für „Westeuropa“ relevanten Erinnerungsorte. Stefan Troebst bemerkt dazu in seiner Rezension: „Dass Katyń, Drittes Rom und das Kaffeehaus lieux de mémoire mit hohem Europäizitätsgehalt sind, leuchtet ein, aber sind es auch das Chanson, die Metro und das Rathaus, gar die Alpen? Und wo sind der Hitler-Stalin-Pakt, der 8. Mai 1945 und das Epochenjahr 1989?“ Ich ergänze: Wäre es nicht angebracht, neben dem Artikel über Auschwitz auch einen über Babyn Jar zu verfassen – den Ort, an dem die größte Aktion der Massenerschießung der jüdischen Bevölkerung, von Patient:innen der Psychiatrie, von Rom:nja und Kriegsgefangenen stattfand?
Ukrainische Themen gehören zu jenen, bei denen es noch eine ganze Reihe an Wissenslücken zu schließen gilt. Dies ist unerlässlich, damit die ukrainische Geschichte, Kultur und Literatur auch für die breite Öffentlichkeit ein unverzichtbarer Teil der europäischen Geschichte wird. Um nur einige Beispiele zu nennen: So etwa müssten Lesja Ukraїnka und Milena Rudnyc’ka in den Gender Studies behandelt werden, ebenso wie die Texte von Viktor Petrov in den Kanon der allgemeinen Literaturwissenschaft aufgenommen werden sollten. Dazu muss aber erst einmal Wissen über die Ukraine in ihrer Vielfalt generiert werden.
Die Befürchtung, die ukrainische Geschichte sei zu „national“, zu „regional“ oder nur ein Fallbeispiel, ist unbegründet. Es ist unmöglich, die ukrainische Geschichte ohne den gesamteuropäischen Kontext zu erzählen. Sie muss in ihrer Verflechtung mit der jüdischen, russländischen, polnischen und osmanischen Geschichte verstanden werden. Bei der Gestaltung von Unterrichtseinheiten wird dies besonders deutlich; so ist der gesamteuropäische Kontext unerlässlich, damit die Studierenden Personen, Ereignisse und Prozesse besser einordnen können. In der Regel ziehen die Seminarteilnehmer:innen von sich aus Parallelen zu ihnen bekannten nationalen Kontexten und stellen auf diese Weise Verbindungen her.
Herausforderungen
An der Europa-Universität Viadrina lehre ich seit Oktober 2018; ich gebe Bachelorseminare in Kulturgeschichte zu osteuropäischen und insbesondere ukrainischen Themen. Die meisten meiner Studierenden kommen aus den Kulturwissenschaften, gelegentlich auch aus den Rechts- und Wirtschaftswissenschaften. An der Viadrina wird viel Wert auf Interdisziplinarität gelegt, weshalb die Studierenden auch Veranstaltungen anderer Fakultäten besuchen müssen. Für mich als Lehrende bedeutet dies wiederum, dass ich mit ganz unterschiedlichem Hintergrundwissen konfrontiert bin. Einerseits kann dies den Austausch fördern, andererseits ist es auch eine Herausforderung, die Studierenden mit den Seminarinhalten weder zu über- noch zu unterfordern.
Hinzu kommt, dass an den Lehrveranstaltungen sowohl Studierende der ersten als auch der höheren Semester teilnehmen, woraus sich wiederum sehr divergierende Voraussetzungen für die gemeinsame Arbeit ergeben, da sich die Vorkenntnisse so unterscheiden. Vor diesem Hintergrund ist bei der Planung von Seminarinhalten und der in den Lehrveranstaltungen behandelten Literatur grundsätzlich eine große Flexibilität gefragt. Es ist davon auszugehen, dass sich die Literaturauswahl auf englisch- und deutschsprachige Texte beschränken wird. Die Arbeit mit Primärquellen ist unter diesen Bedingungen eher schwierig bis unmöglich, denn obwohl die neuesten Entwicklungen im Bereich der künstlichen Intelligenz zwar relativ schnelle Übersetzungen ermöglichen, sind diese Produkte des technischen Fortschritts nicht fehlerfrei. Lehrende müssen viel Zeit investieren, um sie zu redigieren. Es handelt sich eher um eine Notlösung als um einen dauerhaften und nachhaltigen Ansatz. Die Hauptaufgabe besteht darin, den Unterricht so zu gestalten, dass sich alle Teilnehmer:innen angesprochen fühlen.
Bereits 2013/14 erlebte ich als Studentin in Deutschland, wie das Interesse an der Ukraine mit den Maidan-Protesten, der Annexion der Krim und dem Krieg Russlands im Donbas stieg. Ähnlich verhielt es sich 2022 mit dem Beginn der vollumfänglichen Invasion Russlands in die Ukraine. Meiner Erfahrung nach konzentrierte sich das Interesse der Studierenden damals wie heute v.a. auf aktuelle Ereignisse, Erinnerungs- und Geschichtspolitik. Dies ist ein Trend, der nicht nur in der Ukrainistik zu beobachten ist, sondern in allen geisteswissenschaftlichen Fächern. Um die Komplexität der ukrainischen Geschichte zu verstehen, ist es aber wichtig, sie in einem größeren zeitlichen Rahmen zu betrachten. Auch bei Lehrveranstaltungen zu aktuellen Themen ist ein historischer Exkurs empfehlenswert, so sollte z.B. in einem Seminar über Religion(en) in der Ukraine nach 1991 zunächst deren historische Entwicklung zumindest skizzenhaft besprochen werden.
Perspektiven
Die Auseinandersetzung mit ukrainischen und osteuropäischen Themen und deren praktische Umsetzung in Lehrveranstaltungen kann dazu beitragen, immer noch bestehende Mythen und Stereotype über die Ukraine, aber auch über die gesamte Region zu dekonstruieren. So etwa bietet ein Seminar zum Zweiten Weltkrieg in der Ukraine die Möglichkeit, das Vorurteil des antisemitischen und nationalistischen Ukrainers zumindest auf den Prüfstand zu stellen. Andreas Kappeler bemerkt dazu in einem Artikel für Die Presse: „Den ukrainischen Antisemiten und Nationalisten gab und gibt es so wenig wie den österreichischen oder russischen. Die Mehrheit der Ukrainer schloss sich den rechtsextremen Bewegungen des 20. Jahrhunderts nicht an und beteiligte sich nicht an antijüdischen Gewalttaten. Die Masse der Ukrainer kämpfte in der Sowjetarmee gegen Nazi-Deutschland.“
Das heißt nicht, dass es keine Auseinandersetzung mit diesen Themen geben sollte, aber es ist wichtig, auch andere ukrainische Themen zu beleuchten. Denn die Ukraine ist nicht nur das Land von Stepan Bandera (der in der deutschen Öffentlichkeit wohl bekanntesten Persönlichkeit der ukrainischen Geschichte), sondern auch das Land von Mychajlo Kociubynskyj, Isaak Babel, Iryna Wilde und Ahatanhel Krymskyj, um nur einige Namen zu nennen.
Eine wichtige Aufgabe der Lehre zur Ukraine sehe ich darin, das Interesse der Studierenden für die Region, ihre Vielfalt, Sprachen und Kulturen zu wecken, und sie dafür zu sensibilisieren. Viele werden später nicht in der Wissenschaft bleiben und dennoch von einem besseren Verständnis für die Komplexität dieses Teils Europas profitieren können. Durchdachte Lehrveranstaltungen zur Ukraine können zum einen zu einer Dekolonisierung des westlichen Kanons in der Wissenschaft beitragen, zum anderen ermöglichen sie in der Öffentlichkeit einen neuen Blick auf die gesamte Region.
Ausblick
Für den Ukraine-Unterricht brauchen wir dringend mehr Übersetzungen von Primärquellen und den wichtigsten programmatischen Texten ukrainischer Intellektueller ins Deutsche. Es müssen mehr Ukrainischkurse für alle Stufen angeboten werden. Darüber hinaus ist – wie eingangs erwähnt – für die Optimierung der Lehre der Austausch in verschiedenen Formaten von großer Bedeutung.
Schließlich wäre es wünschenswert, auch eine Art „Lehrbuch für Ukrainestudien“ herauszugeben, das wegweisende Anmerkungen für die Gestaltung der Lehre im Bereich der Ukrainestudien bereithielte.