Wissenschaftsblog Polenstudien

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Polenstudien "tief im Westen". Ein Schmelztiegel der Perspektiven im Osteuropa-Kolleg NRW

Reihe: Was sind Polenstudien?
Redaktionell betreut von Osteuropa-Kolleg NRW

Die Universität der in Herbert Grönemeyers Kulthymne besungenen Stadt Bochum beheimatet sowohl Osteuropäische Geschichte als auch Slavistische Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaft. Damit gehört sie zu zahlreichen inner- und außeruniversitären Institutionen mit Osteuropabezug in Nordrhein-Westfalen. So entstand an der Ruhr-Universität die Idee, die vorhandene Kompetenz zu bündeln, um der Osteuropaexpertise eine kraftvolle Stimme zu verleihen. Seit 2015 üben wir im Osteuropa-Kolleg NRW den Spagat zwischen wissenschaftlicher Forschung und Wissenstransfer in einer multikulturellen Gesellschaft. Die Polenstudien im Kolleg "never walk alone", um bei dieser musikalischen Inspiration zu bleiben (und die Fußballhymne von Borussia Dortmund zu paraphrasieren). Was "Polen" ist und wie man es erforscht, wird immer im Kontext ähnlicher Fragen in Bezug auf Russland, die Ukraine oder Belarus debattiert. Die historischen, sprachlichen, religiösen, kulturellen und politischen Verflechtungen Osteuropas lassen sich nämlich nicht nach nationalen Kriterien auseinanderdividieren, auch wenn nationalstaatlich organisierte Geisteswissenschaften mitunter etwas anderes suggerieren mögen.

Das Osteuropa-Kolleg ist ein Netzwerk von Personen und Institutionen, die Themen mit Osteuropabezug erforschen, in der breiten Öffentlichkeit vermitteln und gemeinsame Veranstaltungen organisieren. Laufend kommen neue Partner mit neuen Projekten dazu. In jedem akademischen Semester bieten wir publikumsoffene Vorlesungsreihen an. Im Wintersemester 2018/19 starteten wir an der Ruhr-Universität Bochum den Masterstudien-Schwerpunkt Osteuropäische Studien mit Praxisbezug. Die wissenschaftliche Ausbildung erfolgt in den Osteuropafächern der Ruhr-Universität Bochum. Zentraler Bestandteil ist ein einsemestriges Praxismodul, das in den Partnerinstitutionen des Kollegs absolviert wird und wertvolle Einblicke in die Arbeit von Museen, Archiven, Bibliotheken, Stiftungen und Kulturzentren bietet. Die Studierenden können selbst entscheiden, auf welche der osteuropäischen Länder sie sich in dieser Phase besonders konzentrieren wollen. Um einen Eindruck über die Ausbildung zu bekommen, sei auf die Erfahrungsberichte der Absolventinnen und Absolventen hingewiesen. Ausgestattet mit wertvollem Berufswissen und wichtigen Kontakten haben unsere Absolventinnen und Absolventen einen leichteren Zugang zum Arbeitsmarkt.

Die Polenforschung innerhalb des Kollegs ist breit aufgestellt. Die Universitäten Bochum und Münster profitieren von der engen Zusammenarbeit zwischen der Osteuropäischen Geschichte und der Slavistik. Gemeinsam mit der Martin-Opitz-Bibliothek in Herne, dem Oberschlesischen Landesmuseum und dem Online-Dokumentationszentrum Porta Polonica werden Lehrveranstaltungen konzipiert, in welchen Studierende ihre ersten Archiverfahrungen machen. Die Stiftung Gerhart-Hauptmann-Haus in Düsseldorf leistet mit ihren Jugendprojekten und Studienreisen einen wertvollen Beitrag zur Verbreitung von Wissen über Polen für ein jüngeres Publikum. Das kulturelle Angebot des Polnischen Instituts in Düsseldorf ist eine weitere Ergänzung unserer Polenforschung.

Zu den drei wichtigsten Lessons Learned der letzten sieben Jahre Zusammenarbeit im Osteuropa-Kolleg gehört erstens die Anerkennung der Notwendigkeit, national- und rechtspopulistisch eingefärbte Debatten stets kritisch zu begleiten. Alle Studien mit Osteuropabezug ringen nach wie vor mit dem "diskreten Charme" des Nationalen, das eine Legitimierung der Selbständigkeit des Forschungsgegenstandes einerseits und einen Fluch der Provinzialität andererseits beinhaltet. Als beispielhaft für diese Ambivalenz kann die in den deutschen Ukrainestudien diskutierte Frage dienen, ob nur Nationalstaaten und Staatsnationen eine lehrstuhlwürdige Geschichte hätten. Das Beispiel Polens zeigt, dass es allerdings deutlich erkenntnisreicher ist, mit dem nationsorientierten Paradigma zu brechen. Ukrainische, jüdische, belarusische, litauische, deutsche und russische Perspektiven auf die Polenforschung rütteln an vielen axiomatisch angenommenen, lieb gewonnen Selbstbildern und führen vor Augen, dass die Polenforschung nur in ihren multidimensionalen Verflechtungen betrieben werden kann.

Die Veranstaltungen des Osteuropa-Kollegs sind daher aus guten Gründen nicht nur als Ost-West-, sondern auch als Ost-Ost-Dialog konzipiert. Wenn wir über Nationalismus und Staatlichkeit, sowjetisches Erbe, Grenzen oder Europa-Begriffe diskutieren, laden wir immer Russland-, Polen-, Ukraine- und zunehmend auch Belarus-Expertinnen und Experten ein. Die Oberthemen unserer Kolloquien werden aus verschiedenen, manchmal auch unangenehmen Perspektiven betrachtet. Gerade die außeruniversitären Partnerinstitutionen gehören dabei zu häufigen Gastgebern. Sie genießen den Luxus des Elfenbeinturms nicht: Ihr Publikum ist heterogen und hat unterschiedliche Erwartungen an ihre Angebote. Was in der Wissenschaft lange und ausdifferenziert diskutiert werden kann, muss in der popularisierten Wissensvermittlung tagtäglich pragmatisch gelöst werden.

Die zweite Lektion betrifft ebenfalls die Synergieeffekte, die in unserem Netzwerk entstanden sind, und kann als Beitrag zur Debatte über die Zukunft der Osteuropaforschung dienen. Der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine hat die Geografie unserer Forschungsreisen und -partner notgedrungen geändert. Freilich wurde schon seit einigen Jahren der Einfluss mancher staatlich finanzierter regierungsnaher osteuropäischer Initiativen beobachtet, die Partnerschaften mit deutschen Universitäten anstrebten. Die in vielen osteuropäischen Ländern national-populistisch orientierte Geschichtspolitik richtet aktuell in Museen und Schulbüchern erheblichen Schaden ein. Sie sucht auch nach neuen Kontakten in Deutschland, um verzerrte Geschichtsnarrative zu popularisieren. Der aktuelle Krieg liefert einen zusätzlichen traurigen Grund, um die Frage wissenschaftlicher Kooperationen mit Osteuropa grundsätzlich zu überdenken. Welche Institutionen sind vertrauenswürdig? Welche agieren auf der Basis demokratischer Grundwerte und Forschungsfreiheit? Bei der Beantwortung dieser Fragen können wir auf die Kompetenzen osteuropäischer unabhängiger Nichtregierungsorganisationen zurückgreifen. Sie betreiben eigene Bibliotheken sowie Dokumentations- und Begegnungszentren, sie sind in der Zivilgesellschaft fest verankert und verfügen über Expertenwissen, das für die wissenschaftliche Arbeit unabdingbar ist. Sie freuen sich über die Zusammenarbeit und brauchen gleichzeitig Unterstützung. Die Partnerschaften zwischen universitären und zivilgesellschaftlichen Forschungsinstitutionen, so die bisherige Erfahrung des Osteuropa-Kollegs, sind daher für alle Beteiligten in vielerlei Hinsicht gewinnbringend.

Auch die dritte Lektion aus dem Kolleg betrifft alle Fächer mit Osteuropabezug und wird gegenwärtig überall diskutiert, nicht zuletzt auf dem 14. Deutschen Slavistiktag, der in diesem Jahr an der Ruhr-Universität Bochum stattfand. So habe die im Kontext des russischen Angriffskriegs diagnostizierte Übermacht der russlandzentrierten Osteuropaforschung zur Vernachlässigung der Studien über nicht-russische Einflusszonen des zarischen und sowjetischen Imperiums geführt. Laut wurden deswegen die Postulate einer Dekolonisierung der Osteuropaforschung. Zurecht wird darauf hingewiesen, dass sich beispielsweise die Lehrstühle für Osteuropäische Geschichte in Deutschland "nur" mit Russland befassen. Doch auch auf die Polenforschung kann die Entkolonialisierungsdebatte erfrischend wirken. Als "polnische" Geschichte wird besonders in Polen nicht selten ukrainische, belarusische oder litauische Geschichte betrieben. Seit drei Jahren lanciert das polnische Institut des Nationalen Gedenkens ein "Bildungsprojekt", das die "Popularisierung des Wissens über die Geschichte der polnischen Kresy Wschodnie [östlichen Grenzgebiete] der Ersten und Zweiten Rzeczpospolita unter jungen Menschen" zum Ziel hat. Solche und ähnliche Projekte können von der Polenforschung immer im Dialog mit Vertreterinnen und Vertretern anderer Disziplinen kritisch begleitet werden und so einen wichtigen Beitrag zur Neuausrichtung der Osteuropaforschung leisten.

Die Polenforschung wird im Osteuropakolleg im Schmelztiegel der Kulturen und Kontexte betrieben – und das tut ihr gut. Schauen Sie sich gerne unsere aktuellen Veranstaltungen an und besuchen Sie uns "tief im Westen, wo die Sonne verstaubt", denn "das ist […] besser, viel besser als man glaubt".

Disziplinen

Sprachwissenschaft Religionswissenschaft Slawistik Politikwissenschaft Medienwissenschaft Literaturwissenschaft Kunstwissenschaft Kulturwissenschaft Geschichtswissenschaft

Themen

Zukunft der Osteuropaforschung Vernetzung Wissenstransfer Polnisch-russische Beziehungen Polnisch-ukrainische Beziehungen Public History Ostmitteleuropa
Redaktion Pol-Int

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