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Gespräch mit Andreas Kappeler zu Perspektiven der Ukraine-Forschung

Reihe: #SolidaritätMitDerUkraine

Beigetragen von: Bozhena Kozakevych

Redaktionell betreut von: Lehrstuhl Entangled History of Ukraine

 

Andreas Kappeler ist renommierter Osteuropahistoriker, zu dessen Forschungsinsteressen insbesondere die Geschichte der Ukraine zählt. Zuletzt erschien von ihm bei Böhlau: Vom Land der Kosaken zum Land der Bauern. Die Ukraine im Horizont des Westens vom 16. bis 19. Jahrhundert (2020). Das folgende Gespräch führte Bozhena Kozakevych.

 

Bozhena Kozakevych: Herr Kappeler, in Ihrem Artikel für die Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 10. Juni 2015 schrieben Sie: „Seit die Ukraine mit dem Euro-Majdan und dem russisch-ukrainischen Krieg in die Schlagzeilen gekommen ist, wurde immer wieder beklagt, dass Politik, Medien und Wissenschaft den Ereignissen in der Ukraine unvorbereitet gegenüberstünden und deshalb nicht adäquat reagierten. Auch der Osteuropa-Forschung wird vorgeworfen, versagt zu haben. Ob solche Vorwürfe berechtigt sind oder nicht, fest steht, dass die Ukraine im späten zwanzigsten und frühen 21. Jahrhundert keinen festen Platz auf der kognitiven Karte Europas hatte. Das gilt in eingeschränktem Maß auch noch für die Gegenwart, wie die öffentlichen Debatten zeigen, in denen die Existenz einer ukrainischen Nation, Sprache und Geschichte immer wieder in Frage gestellt wird.“ Diese Zeilen scheinen auch heute, anderthalb Jahre nach der vollumfänglichen Invasion Russlands in die Ukraine, nichts an Aktualität eingebüßt zu haben. Wie kann man das erklären?

Andreas Kappeler: Lassen Sie den Historiker etwas weiter ausgreifen, auch weil ich mich in meinem neuesten Buch mit dem Thema beschäftigt habe.

Die Ukraine und besonders die ukrainischen Kosaken und ihr politisches Gemeinwesen, das Hetmanat, waren im 17. und 18. Jahrhundert in Mittel- und Westeuropa bekannt. Die deutschen und französischen Zeitungen berichteten regelmäßig über deren Feldzüge gegen Osmanen und Tataren und gegen Polen-Litauen, zu dem die Ukraine damals gehörte. Landesbeschreibungen wurden publiziert, allen voran die „Description d’Ukranie“ des französischen Militäringenieurs Beauplan. Mit dem Niedergang und der Auflösung des Hetmanats durch Katharina II. und der administrativen, sozialen und kulturellen Integration der Ukraine in das Russländische Imperium ging das Interesse an der Ukraine in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts stark zurück. Das Fehlen einer politischen Organisation (eines Staates) und einer breiten Elite und Hochkultur führten auch in anderen Regionen und frühen Nationen Europas zum weitgehenden Verschwinden von der mentalen Landkarte. Denken Sie etwa an die Katalanen und Okzitanier/Provenzalen in Spanien und Frankreich. Dazu kam, dass der zarische Staat seit der Mitte des 19. Jahrhunderts Schulen und Publikationen in ukrainischer Sprache verbot.

Das schien sich zu ändern, als im Jahr 1917 die Ukraine plötzlich wieder ins Rampenlicht trat. Eine politische Organisation, die Zentral-Rada, trat in Kyīv auf und rief am Jahresende die Ukrainische Volksrepublik (UNR) aus. Gleichzeitig wurden Bauern und Soldaten politisch mobilisiert. Plötzlich berichteten die westlichen Zeitungen wieder ausführlich über die Ukraine. Mit dem Ende der UNR ging das Interesse an der Ukraine aber wieder rapide zurück. Immerhin erkannten die Bolschewiki die Ukrainer als Nation an und schufen eine Ukrainische Unionsrepublik, die in den 1920er Jahren sprachlich-kulturelle Förderung erfuhr. Seit den 1930er Jahren setzten jedoch eine Russifizierung und Repressionen ein, die bis zum Ende der Sowjetunion andauerten. Immerhin sorgten ukrainische Emigranten dafür, dass das Land mindestens auf der Ebene der Wissenschaft und Kultur nicht ganz vergessen wurde. Nach dem Zweiten Weltkrieg, als die meisten ukrainischen Emigranten nach Nordamerika auswanderten und sich die Russifizierung der Ukraine verstärkte, verschwand die Ukraine weitgehend von der mentalen Landkarte. Die Ukrainer galten als Russen, ihre Sprache als russischer Dialekt, ihre Geschichte und Kultur schienen in der russischen aufzugehen.

Mit der Begründung des unabhängigen ukrainischen Staates im Jahr 1991 entfiel die wichtigste Ursache der Ignoranz. Dennoch blieb die Marginalisierung der Ukraine im Bewusstsein der Mittel- und Westeuropäer weitgehend erhalten. Der seit zwei Jahrhunderten auf der Ukraine liegende Schatten Russlands lichtete sich nur langsam. Die Ukraine wurde als Objekt der „großen“ Politik, vorab der Beziehungen zu Russland, und nicht als historisches Subjekt wahrgenommen. Das änderte sich zeitweilig in den Jahren 2004 und 2013/14, als mit der Orangen Revolution und der Revolution der Würde (Euro-Majdan) die ukrainische Zivilgesellschaft massenweise mobilisiert wurde und erfolgreich die Absetzung ihres Präsidenten und eine politische Neuorientierung des Landes erreichte. Dennoch wurde die Ukraine noch immer nicht als eigenständiges, vollwertiges Mitglied der europäischen Staatenwelt anerkannt. Nicht einmal der 2014 von Russland ausgelöste Krieg gegen die Ukraine brachte ein grundsätzliches Umdenken. Das änderte sich erst, als die Ukraine im Februar 2022 zum Opfer des russischen Angriffs- und Vernichtungskrieges geworden ist. Die öffentliche Meinung reagiert erst auf Kriege in Europa mit Zehntausenden von Opfern. Die Ukraine hat jetzt einen festen Platz auf der kognitiven Landkarte, doch um welchen Preis!

Im Interview für die Zeitschrift Osteuropa 2022 erzählten Sie, wie Sie Ihr Forschungsinteresse auf die Ukraine lenkten und wie es zur ersten Ausgabe Ihrer Kleinen Geschichte der Ukraine 1994 kam. War es damals schwer, die Herausgeber von diesem Projekt zu überzeugen? Wie reagierten Ihre Kolleg:innen auf Ihr Forschungsvorhaben?

Der Verlag C.H. Beck und meine Kolleg:innen nahmen meine Initiative positiv auf. Immerhin existierte nun ein unabhängiger ukrainischer Staat, über dessen Geschichte man wenig wusste. Ich war auch nicht der erste, der damals die Geschichte der Ukraine „entdeckte“. Schon ein Jahr vor meiner Kleinen Geschichte der Ukraine erschien eine Geschichte der Ukraine, herausgegeben von Frank Golczewski. Auch einige Dissertationen sind zu nennen, die zum Teil schon vor 1991 im Druck erschienen waren wie die von Ernst Lüdemann (zur sowjetukrainischen Historiografie) und von Rudolf A. Mark (über Symon Petljura). Eine bedeutsame Rolle spielte in diesen Jahren der Berliner Historiker Hans-Joachim Torke mit wegweisenden Aufsätzen zur frühneuzeitlichen Geschichte der Ukraine. Sein Schüler Carsten Kumke legte 1993 eine Dissertation zu den Zaporoher Kosaken vor. Vorangegangen waren einige nordamerikanische Historiker:innen wie Orest Subtelny, der eine umfangreiche Gesamtdarstellung der ukrainischen Geschichte verfasst hatte. Ich konnte also auf Vorarbeiten zurückgreifen.

Die ukrainisch-polnische Verflechtungsgeschichte wird vor allem unter dem Aspekt der Konflikte erforscht. Wie könnte man sich den ukrainisch-polnischen Beziehungen auf anderem Wege nähern?

Die Geschichte der ukrainisch-polnischen Beziehungen ist nicht nur von Konflikten geprägt, sondern auch reich an wechselseitigen kulturellen und sozialen Kontakten, die von beiden Seiten seit langem erforscht werden.

Im Königreich Polen-Litauen, zu dem fast die gesamte damals besiedelte Ukraine vom 14. bis zum 17. Jahrhundert gehörte, standen die ethnisch polnischen und ukrainischen Gemeinschaften in enger Wechselwirkung. Polen war der wichtigste Kanal westlicher Einflüsse auf die Ukraine, vom Stadtrecht über Humanismus und Renaissance bis zur Gegenreformation und den Jesuitenschulen. In Städten wie Lviv, Ostrih und Kyīv vermischten sich die polnisch-katholische und ukrainisch-orthodoxe Kultur. Diese frühe Orientierung nach Westen ist von der ukrainischen Nationalbewegung, etwa von Mychajlo Drahomanov, herangezogen worden, um die Ukraine von Russland (Moskowien) abzugrenzen. Sie ist heute wieder aktuell geworden. Seit dem 19. Jahrhundert verbinden sich polnische und ukrainische Interessen im Kampf gegen die Herrschaft Russlands (der Sowjetunion) über die beiden Länder. „Für Eure und unsere Freiheit!“ – dieser Kampfruf der polnischen Emigration gilt auch für den von Polen unterstützten Abwehrkampf der Ukraine gegen den Angriffskrieg Russlands.

Dabei dürfen Antagonismen, die sich vor allem auf das 20. Jahrhundert konzentrieren, nicht geleugnet werden; gegenseitige negative Stereotype sind auch in Zeiten der scheinbaren Eintracht noch immer lebendig und können bei Bedarf abgerufen werden. Deswegen müssen der Dialog und die beidseitige Erforschung umstrittener Ereignisse fortgesetzt werden.

Eine ukrainisch-polnische Verflechtungsgeschichte muss unbedingt die Juden in der Ukraine bzw. die jüdischen Ukrainer:innen miteinbeziehen, ohne die das Bild lückenhaft bliebe.

Welche Perspektiven sehen Sie für die Ukrainistik im deutschsprachigen Raum?

Im deutschen Sprachraum ist die Slawistik die Leitwissenschaft der auf die Ukraine bezogenen area studies. Sie nimmt in der Vermittlung der ukrainischen Sprache und Literatur noch heute einen wichtigen Platz ein. Dazu kommt die Geschichtswissenschaft mit ihrem regionalen Zweig, der Osteuropäischen Geschichte, die ihren traditionellen Russozentrismus allmählich überwindet. Slawische Philologie und Osteuropäische Geschichte sind an zahlreichen deutschsprachigen Universitäten vertreten. Allerdings sind es meistens einzelne Personen, die sich mit der Ukraine beschäftigen. Nach ihrem Weggang fällt der Ukraineschwerpunkt wieder weg. So geschah es nach meinem Weggang aus Köln und der Emeritierung Frank Golczewskis in Hamburg. Wir benötigen also eine institutionelle Verankerung mit eigenen Instituten und Studiengängen. Diese gibt es bisher nur in Greifswald, Wien und Frankfurt (Oder). Die Sozialwissenschaften liegen zurück und müssen stärker berücksichtigt werden.

Ein Zusammenwirken der unterschiedlichen auf die Ukraine bezogenen Wissenschaftszweige gibt es bisher nur in Ansätzen, so in der Deutschen Assoziation der Ukrainisten. Dafür ist ein Zentrum für Polen- und Ukrainestudien, wie das kürzlich an der Viadrina gegründete, notwendig.

Die Situation ist heute günstiger als früher, hat doch der Angriffskrieg Russlands den Blick auf die Ukraine gelenkt, so dass auch die Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur (mit ihren Ressourcen) eingebunden werden können. Die Präsenz der zahlreichen aus dem Land geflüchteten Ukrainer:innen mit ihren Fachkompetenzen kann dazu einen Beitrag leisten. Allerdings ist zu hoffen, dass die Mehrzahl von ihnen bald in die Ukraine zurückkehren kann und will.

Es ist traurig, dass es Zehntausende von Toten und Millionen von Geflüchteten bedarf, um das Interesse für das zweitgrößte Land Europas zu wecken.

Die Zukunft einer „Ukrainistik“ hängt auch davon ab, ob die großartige Solidarität mit der Ukraine anhält. Es ist zu befürchten, dass sie allmählich schwinden und das Interesse an der Ukraine mit der Zeit zurückgehen wird. Umso wichtiger ist eine dauerhafte institutionelle Verankerung, wie im Viadrina Center of Polish and Ukrainian Studies.

Disziplinen

Slawistik Politikwissenschaft Kulturwissenschaft Geschichtswissenschaft

Themen

Ukrainestudien Verflechtungsgeschichte #SolidaritätMitDer­Ukraine Russlands Krieg gegen die Ukraine Area Studies Polnisch-ukrainische Beziehungen
Redaktion Pol-Int

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