Am 23. Mai lud die Junge DGO zu einem offenen Gedankenaustausch über die Folgen des russischen Krieges gegen die Ukraine für die junge Osteuropaforschung ein. Wir haben diese Veranstaltung als Teil unseres eigenen Bewältigungsprozesses und als ersten Versuch begriffen, unsere Ohnmacht, Sprachlosigkeit oder Wut in „konstruktive“ Bahnen zu lenken.
Denn nach dem 24. Februar 2022 war an konzentriertes Arbeiten kaum zu denken. Wie so viele haben wir auf Demonstrationen unsere Solidarität gezeigt oder versucht, durch Spenden humanitäre Hilfe zu leisten. Trotzdem ging und geht der akademische Alltag weiter. Stellen laufen aus, Abgabefristen für Publikationen und Bewerbungen stehen an, Lehrveranstaltungen müssen vorbereitet und Anträge geschrieben werden. Insbesondere junge Wissenschaftler*innen fühlen sich nicht selten aufgerieben zwischen dem systemischen Druck und den immer zu geringen Kapazitäten, um „wirklich“ zu helfen. Hinzu kommen für viele bange Fragen zur Zukunft: Wie sollen wir in den nächsten Jahren zum und mit dem östlichen Europa forschen? Welche Archivbestände werden den Krieg überleben und welche werden für uns auf lange Zeit unzugänglich bleiben? Zugleich fühlen sich schon solche Fragen angesichts des Krieges oft bedeutungslos oder vermessen an.
Mit all diesen Ambivalenzen und Zweifeln im Kopf war es wohltuend, dass der Osteuropahistoriker und VOH-Vorsitzende Martin Aust bereits Ende März in der FAZ über die Folgen des Krieges für die Osteuropäische Geschichte reflektierte. Dabei ging er auch auf diejenigen ein, die sich gerade in der Osteuropaforschung qualifizieren. Das ermutigte uns zusätzlich, den Rahmen der Jungen DGO zu nutzen, um mit anderen jungen Osteuropaforschenden über die aktuelle Situation und deren Auswirkungen auf unsere Arbeit und unser Selbstverständnis ins Gespräch zu kommen. Für den 23. Mai planten wir deshalb ein Open-Mic-Event und luden die Mitglieder der Jungen DGO und weitere Interessierte ein. Erfreulicherweise sagte auch Martin Aust für einen kurzen Input zu. Er begann seinen Vortrag mit dem Verweis auf die Archivrevolution der 1990er Jahre, von der die Mehrzahl der aktuellen Lehrstuhlinhaber*innen profitiert habe. Hingegen drohe aktuell ein Rückschritt in die Zeit des Kalten Krieges: Russländische Archive sind nicht mehr zugänglich, was einen großen Teil der sowjetischen und russländischen Geschichte kaum mehr erfassbar macht, zumal eine beträchtliche Menge an Akten – unabhängig davon, dass sie sich beispielsweise mit der Ukraine oder Georgien beschäftigen – infolge der imperialen Realität der Sowjetunion in Moskau oder St. Petersburg liegt.
Wie ließe sich dieses Problem nun lösen? Martin Aust verwies vor allem auf individuelle Maßnahmen für betroffene Arbeiten. Auswege könnten eine gemeinsame Neustrukturierung geplanter Projekte oder der Rückgriff auf digital verfügbare Quellen bieten, die in Zukunft systematischer als bisher gebündelt werden müssten. Gleichzeitig müsse bedacht werden, dass Dissertationen oder Habilitationen Qualifikationsarbeiten seien, die zunächst dazu dienten, grundsätzliche Kompetenzen nachzuweisen. Diese Gedanken müssten sich Gutachter*innen von Projektanträgen genauso machen wie Mitglieder von Berufungskommission für Osteuropaprofessuren, in denen andere Schwerpunkte als die bisher oft klassische Fixierung auf Russland in Erwägung gezogen werden müssten.
Mit großem Interesse verfolgen wir als Junge DGO, dass solche strukturellen, mittel- und langfristigen Erwägungen an anderer Stelle aufgegriffen wurden und werden – etwa im Verband der Osteuropahistoriker*innen oder der Jahrestagung der DGO. Sie standen jedoch nicht alleine im Fokus unserer Veranstaltung. Unser Gedankenaustausch war vielmehr auch als Raum gedacht, um ausgiebig und im Gespräch mit anderen über unsere eigene Position als Forscher*innen zu reflektieren. Deutlich wurde einmal mehr, dass wir als Generation junger Studierender und Forschender unsere Gegenwart als außergewöhnliche Zeit wahrnehmen. Viele haben in den letzten Jahren nichts anderes gemacht, als Projekte immer wieder umzustellen und neu zu denken. Erst die Pandemie mit den Unwägbarkeiten von Recherchereisen, nun der Krieg. Insofern bräuchte es Hilfsfonds wie in den ersten Corona-Jahren, um Forschungsarbeiten zu einem erfolgreichen Ende zu bringen.
Zugleich stellt sich vielen von uns die Sinnfrage. Gab es zu wenig Expertise für das östliche Europa oder wurde sie nur nicht gehört? Welche blinden Flecken haben dazu beigetragen, dass es so weit kommen konnte? Welche Rolle kann Wissenschaft in solchen Kontexten spielen? Zudem ist es ungewohnt, plötzlich ein derartig großes Interesse mit unseren sonst so sperrigen sozial- und geisteswissenschaftlichen Forschungen zu dem teilweise als „weit weg“ empfundenen Osteuropa hervorzurufen. Manche von uns wurden regelrecht zu „Expert*innen im Kleinen“, wenn im Freundeskreis oder in der Familie um eine Einordnung des Geschehens gebeten wurde oder wir uns mit unhaltbaren Positionen konfrontiert sahen.
Natürlich stellen sich auch im Berufsalltag zwischenmenschliche Fragen: Wie gehe ich mit meinen russischen oder belarusischen Kolleg*innen um? Was kann ich gerade von ukrainischen Kolleg*innen verlangen? Welche konkrete Unterstützung – etwa im Rahmen des Akademischen Netzwerks Osteuropa e.V. oder der University of New Europe – für Kolleg*innen aus der Ukraine bieten?
In der momentanen Situation gibt es mehr Fragen als Antworten. Dennoch war es uns wichtig, gemeinsam zu überlegen, wie wir mit den Folgen des Krieges in der Ukraine bezogen auf unsere wissenschaftliche Arbeit, unsere berufliche Zukunft und nicht zuletzt auf unser Selbstverständnis als mit dem östlichen Europa befasste Wissenschaftler*innen umgehen können. Wie können wir nicht nur individuell, sondern auch als Gruppe der jungen Osteuropaforscher*innen auf die aktuelle Situation reagieren?
Ein wichtiges Anliegen ist es uns, dafür zu sorgen, dass unsere Stimme gehört wird in den aktuellen Debatten zur Gegenwart und Zukunft des Fachs. Wir wünschen uns, dass die Auswirkungen des Krieges auf die spezifische Situation des wissenschaftlichen „Nachwuchses“ auch auf den etablierten Podien und in den großen Fachverbänden der Osteuropaforschung thematisiert werden, und hoffen, dass hier weniger ein „Reden über“ als ein „Reden mit“ gelingt.
Außerdem sehen wir uns als junge Wissenschaftler*innen in der gegenwärtigen Lage mit veränderten Anforderungen und Verantwortlichkeiten konfrontiert. In Anbetracht des gesteigerten Interesses an Osteuropa – in der medialen Öffentlichkeit, im Hochschulalltag und im persönlichen Umfeld – ist Expertise in Form von fundierten und zugleich verständlichen Einordnungen gefragt. Weiterbildungen im Bereich Wissenschaftskommunikation könnten kurzfristig hilfreiche Ergänzungen, langfristig sogar essenzielle Bestandteile des wissenschaftlichen Ausbildungsprozesses darstellen. Hinzu kommt die hochschulpolitische Dimension, die diesem Thema aus unserer Sicht innewohnt: Während in Stellenbesetzungsverfahren die Eignung der Kandidat*innen oft ganz wesentlich an ihrer Publikationsliste und den eingeworbenen Drittmitteln festgemacht wird, spielen Beiträge in populären Medien, ein aufwändig kuratierter Newsletter oder ein reichweitenstarker Twitteraccount mit fundierten wissenschaftlichen Einordnungen allenfalls eine untergeordnete Rolle. Welchen Wert solche Formate aber als Kommunikationskanäle für Wissenschaft und als kritisches Gegengewicht in öffentlichen Debatten haben, zeigt die mediale Präsenz zweifelhafter „Expert*innen“ in der aktuellen Situation sehr deutlich.
Darüber hinaus wird einmal mehr offensichtlich, welche Relevanz ein Verband wie die Junge DGO als interdisziplinäres Netzwerk für junge Forschende haben kann. Unmittelbar bezogen auf den Krieg in der Ukraine sehen wir großes Potenzial im Dialog der verschiedenen mit Osteuropa befassten Fachrichtungen, aber auch mit anderen Area Studies und Forschungsfeldern. Die Kenntnisse, Strategien und Fähigkeiten derjenigen, die sich schon länger mit sich schnell verändernden Forschungsregionen, akuten Krisen- und Kriegsherden und traumatisierenden Ereignissen auseinandersetzen, sind wertvolle Wissensbestände. So etwa arbeiten Forscher*innen der Südosteuropäischen Geschichte oder der Politikwissenschaft anhand der sogenannten Jugoslawienkriege der 1990er Jahre bereits zu „Kriegen in Europa“ und könnten ihre Erfahrungen teilen. Eine solche Perspektive trägt zu einer umfassenderen Einordnung des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine vor dem Hintergrund anderer Kriege in Europa bei – aber auch darüber hinaus.
So war das vielleicht wichtigste Ergebnis unseres Gedankenaustausches die Feststellung, dass solche Veranstaltungen wie am 23. Mai dringend notwendig sind und fortgesetzt werden sollten. Wir können uns nicht aussuchen, in welchem Kontext wir unseren Platz in der Forschung finden müssen. Der Krieg hat diesen nun für immer verändert. Nun gilt es, nach Kräften an der Neuausrichtung mitzuwirken, sowohl individuell als auch als Verband – für die Menschen in der Ukraine, Kolleg*innen aus dem östlichen Europa, aber eben auch für die Zukunft unserer Disziplin.