Als erstes Land des Ostblocks erkämpfte sich Polen 1989 teilweise freie Wahlen und setzte seinen pro-demokratischen und euroatlantischen Kurs auch nach dem Systemwechsel erfolgreich fort. 1999 folgte der Beitritt zur NATO, 2004 die Aufnahme in die EU. Seit dem Wahlsieg der nationalkonservativen Partei Prawo i Sprawiedliwość (PiS) 2015 erfährt die Demokratie in Polen jedoch eine zunehmende Schwächung. In Anbetracht der Angriffe auf Grundlagen des demokratischen Systems, insbesondere auf die Rechtsstaatlichkeit, wird die polnische Demokratie inzwischen von zentralen Demokratieindizes wie Freedom in the World nicht mehr als gefestigt, sondern als "semi-konsolidiert" bzw. "defekt" bewertet. Vor diesem Hintergrund positioniert sich die polnische Gesellschaft zwar mehrheitlich als pro-demokratisch, spaltet sich aber in der Zufriedenheit mit der Funktionsweise ihrer Demokratie. Als wichtiger Akteur in der demokratischen Krise des Landes ist dabei nicht nur die PiS-Regierung, sondern auch die katholische Kirche zu nennen. Unter der PiS-Regierung erhält die historisch etablierte Interdependenz von Kirche und Staat in Polen eine neue Dynamik.
Die Kirche als Vertreterin nationaler Identität
Die politische Relevanz der katholischen Kirche im heutigen Polen ist maßgeblich durch ihre historische Rolle bestimmt. Infolge langer Zeiten von Fremdherrschaft und Teilungen in der Geschichte Polens entwickelte sich die katholische Kirche zur Vertreterin und Verteidigerin der nationalen Einheit und polnischen Identität. Aufgrund des hohen Rückhalts in der Gesellschaft wurde die Kirche in Polen nicht nur zu einer zentralen gesellschaftlichen Institution, sondern auch zu einer wichtigen Brücke zwischen Volk und Staatsmacht. Aus dieser Sonderrolle heraus wurden der Kirche selbst unter kommunistischer Führung vergleichsweise viele Freiheiten gewährt. Als die prodemokratische Oppositionsbewegung um die Gewerkschaft Solidarność in den 1980er Jahren erstarkte, übernahm die Kirche eine zentrale Rolle. Sie war über ihren Symbolcharakter nationaler Souveränität hinaus aktiv an der Entwicklung und Mobilisierung der Zivilgesellschaft beteiligt. Hierbei verlieh die persönliche Unterstützung des damaligen polnischstämmigen Papstes Johannes Paul II. der gesellschaftlichen Aufbruchstimmung des Landes eine besondere Dynamik. Infolgedessen saß die Kirche 1989 auch als einer der Verhandlungspartner am Runden Tisch.
Politische Einflusskanäle der Kirche
In den politisch unruhigen Jahren nach dem Systemwechsel übernahm die Kirche hingegen keine stabilisierende Rolle, sondern vertrat vielmehr offensiv ihre eigenen institutionellen Interessen. So erwirkte sie unter anderem die in der polnischen Verfassung festgeschriebene und bis heute gültige kooperative Trennung von Staat und Kirche, derzufolge beide Institutionen formal zwar getrennt sind, aber "zum Wohle des Menschen und der Gesellschaft" kooperieren. Diese Regelung gewährt der katholischen Kirche diverse Privilegien und gesellschaftspolitische Einflusskanäle. Hierbei stellt die Gemeinsame Kommission von Regierung und Episkopat die am stärksten institutionalisierte Einflussmöglichkeit dar. Als höchste Verhandlungsinstanz zwischen Kirche und Staat wird diese offizielle Kooperationsinstitution primär für moral- und bildungspolitische Anliegen genutzt. Darüber hinaus sind neben informellen Beziehungsnetzwerken zwischen Bischöfen und zumeist konservativen Politiker*innen die politisch-religiösen Äußerungen des Klerus als weiterer gesellschaftspolitischer Hebel zu nennen, die aufgrund der institutionellen Reichweite in der Regel große Aufmerksamkeit erlangen. So lässt sich immer wieder beobachten, wie die Kirche insbesondere bei moralpolitischen Fragen wie der Regelung von Schwangerschaftsabbrüchen mit scharf formulierten moralischen Appellen vehement ihren Einfluss auf die Meinungsbildung und Entscheidungsfindung geltend macht.
Die politische Rolle der Kirche unter der PiS-Regierung
Unter der PiS-Regierung hat die Vermischung der politischen und kirchlichen Sphäre indes eine neue Dynamik gewonnen. Der Regierungswechsel 2015 kann für das Verhältnis zwischen der katholischen Kirche und der Regierung insofern als Zäsur gewertet werden, als die PiS gemeinsam mit der Kirchenführung eine Stärkung der politischen Rolle der Kirche vorantreibt. So lässt sich eine enge, auf der nationalkatholischen Ideologie basierende Verbindung von Kirche und Regierung beobachten, welche eine Verflechtung von Nation und Katholizismus propagiert. Gleichwohl die Vermischung von Religion und Politik in Polen nicht neu ist, hat die Instrumentalisierung des christlichen Glaubens für politische Zwecke unter der PiS-Regierung eine neue Qualität erreicht. Ein prominentes Beispiel stellt die Nähe der Regierung zum katholischen Mediennetzwerk um Pater Tadeusz Rydzyk dar, dessen Sender Radio Maryja anti-demokratischen, nationalistischen, xenophoben, antisemitischen und anti-EU Positionen eine Plattform bietet. Hier werden – oftmals gemeinsam mit PiS-Politiker*innen – unter Berufung auf die katholische Lehre politische Haltungen propagiert und somit eine Vermischung von Religion und Politik erzielt. Wie wichtig diese Verbindung für die Regierung ist, zeigt sich immer wieder in öffentlichen Wertschätzungen der Arbeit des Senders und des dahinterstehenden Paters durch ranghohe PiS-Politiker*innen. Doch auch über das katholische Mediennetzwerk hinaus stellt die geschickte Kooperation der PiS mit dem traditionalistischen Flügel der Katholischen Kirche einen Erfolgsfaktor für die Partei dar. Sowohl die Regierung als auch die Kirche betreiben dabei bewusst eine Sakralisierung des Politischen und eine Politisierung des Sakralen zugunsten nationalkonservativer Positionen.
Risiken und Chancen für die polnische Demokratie
Die Vermischung der politischen und kirchlich-religiösen Sphäre zugunsten nationalkonservativer Positionen, die aus der Nähe der katholischen Kirche mit der polnischen Regierung hervorgeht, weist Risiken für die polnische Demokratie auf. Zum einen ist eine fehlende aufgeklärte Haltung der Kirche gegenüber demokratischen Werten zu bemängeln, sodass die Kirche illiberale Positionen und nationalkonservative Narrative der Regierung stärkt. Zum anderen vertieft die politische Involvierung der Kirche die Risse in der polnischen Gesellschaft, wodurch die Zivilgesellschaft gespalten und in ihrer Wehrhaftigkeit geschwächt wird. Eine starke Zivilgesellschaft ist jedoch essenziell, um dem demokratischen backsliding des Landes erfolgreich entgegenwirken zu können.
Die Risiken, die die heutige politische Rolle der katholischen Kirche mit sich bringt, werden indes von der polnischen Bevölkerung ernst genommen – es formt sich zunehmende Kritik an der politischen Präsenz und Einflussnahme der Kirche sowie an ihrer Verbindung mit der Regierung. Da die Kirche für die katholisch geprägte polnische Gesellschaft nicht nur eine religiöse Institution, sondern auch eine Trägerin nationaler und kultureller Identität ist, kommt ihr eine wichtige Orientierungsfunktion zu. Ein Wegfall der Kirche als Orientierungsinstanz droht eine Lücke in der polnischen Gesellschaft zu hinterlassen, die populistische Akteur*innen bewusst für ihre Zwecke nutzen könnten.
Trotz dieser ernstzunehmenden Gefahren dürfen die Chancen nicht unterschätzt werden, die die katholische Kirche in ihrer historisch zentralen Rolle für die Stärkung der polnischen Demokratie besitzt. Angesichts der anti-demokratischen Entwicklung in Polen könnte und sollte die Kirche als kritisches Korrektiv fungieren und die Zivilgesellschaft des Landes stärken. Offenkundig stellt die dafür erforderliche Veränderung derzeit eine immense Herausforderung dar. Dennoch sollte diese Neuausrichtung nicht als unrealistisches Szenario verworfen werden, speist sich die Autorität der katholischen Kirche doch primär aus ihrer Bedeutung für die Demokratisierung des Landes. Den Triumph über das kommunistische Regime und die Verantwortung für die Erlangung demokratischer Freiheit prägt zwar das heutige Selbstverständnis der polnischen Kirche, hat in ihr aber kein nachhaltiges Verantwortungsbewusstsein für die Sicherung und Festigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung des Landes wachsen lassen. Gleichwohl die katholische Weltkirche als Ganzes vor der Herausforderung steht, ihre Position zu liberalen Werten und ihre Rolle im demokratischen Gefüge grundsätzlich und immer wieder neu zu bestimmen, kommt der katholischen Kirche Polens in diesem Kontext eine besondere Rolle zu, da sie ihre gesellschaftspolitische Verantwortung für die freiheitliche Demokratie nicht neu lernen muss, sondern an ihre historische Erfahrung anknüpfen kann. Als zentraler Katalysator für eine solche Umkehr und die Entfaltung ihres pro-demokratischen Potenzials könnte hierbei die schwindende Unterstützung für die Kirche innerhalb der polnischen Bevölkerung wirken. Angesichts starker Kritik hat die Kirche existenzielle Gründe für Veränderung und Neuausrichtung. Letztlich bleibt abzuwarten, ob es der katholischen Kirche in Polen gelingt, sich auf ihre gesellschaftspolitische Verantwortung zu besinnen und sich aus ihrer Interdependenz mit der Regierung zu lösen. Hierfür braucht es eine fundamentale, verantwortungsbewusste Auseinandersetzung innerhalb des Klerus, um eine klare Vision der Kirche im demokratischen System des Landes zu entwickeln und die Aufgaben sowie institutionellen Veränderungen zur Erhaltung und Verteidigung der polnischen Demokratie zu bestimmen.