Spannende Zeiten: Die polnische Soziologin Maria Jarosz beschreibt ihr Leben zwischen den Ghettoerfahrungen als Kind und der wissenschaftlichen Karriere, zwischen den Freuden an der Forschung und den Schrecken der Wissenschaftsorganisation im kommunistischen Staat, zwischen Inklusion und Exklusion. Dabei analysiert sie en passant Mechanismen realsozialistischer Lebenswirklichkeit und wirft einen durchaus kritischen Blick auf die Transformationszeit. »Die Beschreibung von Ereignissen aus dem persönlichen Leben der Autorin (…) – das sind die bisweilen erschütternden, bisweilen paradoxen und lustigen Erinnerungen eines Menschen, der zunächst vor allem um sein Leben gekämpft hat und später um die wissenschaftliche Wahrheit.« (Cezary Kosikowski, Państwo i Prawo) Maria Jarosz (geb. 1931) gehört zu den führenden Vertreterinnen der polnischen Soziologie. Sie ist Professorin am Institut für Politische Studien der Polnischen Akademie der Wissenschaften sowie Autorin und Herausgeberin zahlreicher Bücher.
Maria Jarosz (2013)
Spannende Zeiten. Aus dem Leben einer polnischen Soziologin
- Beitrag vom: 07.05.2014
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Empfohlen von Dr. Tim Buchen
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Spannende Zeiten. Aus dem Leben einer polnischen Soziologin
Rezensiert von Dr. Zaur Gasimov
- Beitrag vom: 21.05.2014
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Rezension von
Dr. Zaur Gasimov
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Redaktionell betreut von
Dr. Tim Buchen
- DOI: 10.11584/opus4-768
Maria Jarosz, eine bekannte polnische Soziologin jüdischer Abstammung, war achtjährig als der Zweite Weltkrieg ausbrach. Sie, ihr kleinerer Bruder und ihre Eltern fanden sich in den nächsten Monaten im Lodzer und danach im Warschauer Getto, wo der Alltag durch die Gräuel des Krieges bestimmt war. “An die deutsche Besatzung erinnere ich mich nur zu gut: Menschenjagd, Völkermord, Zerstörung fast ganz Warschaus, Hunger, Vernichtung der polnischen Kultur und Bildung“ (S. 42), schrieb Jarosz. Ihre Erinnerung an die Kriegsjahre ist eine Erinnerung an Leben und zugleich an die Todesgefahr, die sie und ihre Familie bis zum Kriegsende begleitete. Sie schildert die Begegnungen mit den Schmalzowniks, jenen Polen, die Juden an Deutsche denunzierten sowie mit den Polen, die Juden halfen, sie beherbergten und dabei ihr eigenes Leben riskierten. Für Maria Jarosz waren das Judentum ihrer Eltern und der Familie aber auch das Polentum ihrer unmittelbaren Umgebung, die polnische Sprache und Literatur untrennbare Bestandteile ihrer Identität. “Während des gesamten Kriegs war ich weder zu Schule gegangen, noch hatte ich wie viele meiner Altersgenossen am geheimen Gruppenunterricht teilgenommen. Wir zogen schließlich durchs Land, flohen von Ort zu Ort, wobei die Romane von Sienkiewicz und Żeromski immer dabei waren.“ (S. 43)
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, der darauf folgenden Etablierung der kommunistischen Herrschaft in Polen und nicht zuletzt wegen der antisemitischen Erfahrungen im Nachkriegspolen, wanderten die Eltern von Maria Jarosz nach Frankreich. Sie blieb in Polen und wollte unbedingt dort studieren und ihr eigenes Leben organisieren. In den 1950ern war sie bereits unter den Studenten der Soziologie an der Universität Warschau. “In Warschau hatte ich ebenfalls Glück mit den Dozenten. Logik lehrte Tadeusz Kotarbiński, Philosophie Leszek Kołakowski“ (S. 55), schrieb sie und fügt hinzu, dass Zygmunt Bauman und Jerzy J. Wiatr im Jahrgang über ihr studierten. Jarosz, die sich bewusst fürs Studium und den Verbleib in Polen entschied, teilte die Studentenbank mit den prominenten polnischen Soziologen und knüpfte positive Erwartungen an die politischen Entwicklungen, vor allem nach 1956. „Polen wurde auf der ganzen Welt offiziell anerkannt, hatte eine polnische Verwaltung, polnisches Recht, Bildung und Kultur.
Die polnischen Sportler gehörten zur Spitze des europäischen Sports. Die graue Realität der Volksrepublik war gleichzeitig die goldene Epoche des polnischen Kinos und Theaters, mit in dieser Form einzigartigen Theateraufführungen im Fernsehen.“ (S. 63). Im Bereich der Soziologie, auf die sich Jarosz in ihrem Studium spezialisierte, machte sie Ende der 1950er Jahre eine steile akademische Karriere. Gleich nach der Verteidigung ihrer Magisterarbeit assistierte sie dem bekannten polnischen Soziologen Jan Szczepański an der Universität Warschau. Ausgelöst durch den Konflikt mit dem polnischen Soziologen Jerzy Wiatr folgte 1969 die „erzwungene Arbeitslosigkeit und der politische Ausschluss aus der polnischen Gesellschaft“ (S. 64f). Jaroszs Ablehnung der Mitarbeit im von Wiatr lancierten Projekt, aber auch ihre jüdische Abstammung und die Tatsache, dass ihre Eltern und weitere Familienangehörigen im Westen lebten, führten zur Entlassung und hielten die Möglichkeiten akademisch tätig zu sein, fern. Abgesehen von den interessanten Ausführungen Jaroszs bezüglich der Verhältnisse innerhalb der polnischen Soziologie stellen die Darstellungen ihrer Auslandsreisen und -aufenthalte einen spannenden Einblick in den Wissenschaftsbetrieb im ‚sozialistischen Block' dar. Jarosz beschreibt z. B. ihren Vortrag und unterschiedliche Reaktionen darauf am Internationalen Kriminologenkongress in Varna im September 1975, an dem Wissenschaftler aus der Tschechoslowakei und der DDR mit ihrer konservativen und linientreuen Haltung sogar die sowjetischen Wissenschaftler ins Staunen brachten. Interessant sind ihre Erinnerungen an die Forschungsaufenthalte in Jugoslawien.
Mit der Habilitation 1978 kehrte Jarosz aktiv in die polnische und europäische Soziologie zurück. Sie schrieb intensiv zur Familien- und Kriminalitätssoziologie, edierte Sammelbände und publizierte viel im europäischen Ausland. “Der Beginn der neunziger Jahre war für mich eine wunderbare Periode“ (S. 130), schrieb Jarosz, die die Wende als Soziologieprofessorin an der Universität Warschau erlebte. Die Erinnerungen von Maria Jarosz an „Spannende Zeiten“ sind eine wunderbare Einführung in das Leben einer polnischen Wissenschaftlerin, Soziologin und Frau jüdischer Abstammung, die das Vorkriegspolen, die Gräuel des Holocaust und des Zweiten Weltkrieges, die sogenannte kommunistische Ära und den Postkommunismus in Polen erlebte und darüber sachlich reflektiert. Ihre Memoiren, die durch den Berliner Historiker und Polonisten Matthias Barelkowski meisterhaft ins Deutsche übertragen und von Seiten des Deutschen Polen-Instituts in Darmstadt der deutschsprachigen Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden, sind eine wertvolle Erinnerung an die Tragik des Zweiten Weltkrieges, an die facettenreichen polnisch-jüdischen Beziehungen und an das wissenschaftliche Leben im (post)kommunistischen Polen. Das Buch ist allen Osteuropa- und Poleninteressierten zu empfehlen.