In Polen trägt Maria Janion schon seit mehreren Jahrzehnten zur kritischen Auseinandersetzung und Dekonstruktion des nationalen Mythenreservoirs bei und ist eine der federführenden Intellektuellen, die dem Meisternarrativ entgegengesetzte und alternative Perspektiven auf die polnische Geschichte und ihre Historiographie zu geben vermögen. Während dem deutschen Leser bisher nur einzelne Aufsätze in verstreuten Sammelpublikationen zugänglich waren [1], ist nun ein tieferer Einblick in das Schaffen dieser bedeutenden polnischen Literaturwissenschaftlerin möglich. Dies Dank der hier vorliegenden und von der an der Universität Potsdam lehrenden Professorin für Slawische Literatur- und Kulturwissenschaft Magdalena Marszałek herausgegebenen Publikation, die insgesamt neun Essays Maria Janions präsentiert. Erschienen ist die Essay-Sammlung als Band 15 der vom Deutschen Polen-Institut in Darmstadt herausgegebenen Reihe „Denken und Wissen" und richtet sich folglich nicht nur an ein wissenschaftliches Fachpublikum. Vielmehr soll mit Maria Janion nun in Deutschland „eine mit den europäischen Denktraditionen zutiefst vertraute Literatur- und Kulturforscherin […], für die es naturgemäß keine nationalsprachliche Begrenzung geben kann" (S. 13) vorgestellt und als bedeutende europäische Intellektuelle gewürdigt werden. Die Auswahl der Texte konzentriert sich auf das Spätwerk der Autorin. Präsentiert werden mit zwei Ausnahmen nach der Jahrtausendwende publizierte Texte. Wie die Herausgeberin in der in das Wirken Janions einführenden Einleitung (S. 11-33) betont, sollen diese jedoch „die Dimension des Gesamtwerks ahnen [lassen] […] und die aktuellsten und prägnantesten ihrer Themen [behandeln]" (S. 25).
Das Hauptaugenmerk von Janions Studien, in denen sie durch die Analyse literarischer, kulturhistorischer und philosophischer Texte aus den letzten zwei Jahrhunderten ein Panorama der polnischen Kulturgeschichte liefert, liegt auf der bis heute die kulturelle Identität des Landes bestimmenden Epoche der Romantik, die sie stets auch in ihre Auseinandersetzungen mit der Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts miteinbezieht. In Hinblick auf diese Romantik-Rezeption spricht Magdalena Marszałek von einer „spezifischen »Janion-Brille«, die die romantische Vorstellungswelt fokussiert, von ihr ausgeht und immer wieder zu ihr zurückkehrt" (S. 24). Anhand der in den 1980er Jahren entwickelten „phantasmatischen Kritik" befrage Janion dabei in ihren Analysen „die imaginären Potentiale von Literatur und Kunst, die den bewussten wie unbewussten kulturellen Vorstellungen und Bildern entspringen und diese ebenfalls prägen" (S. 23f). Im Vordergrund dieser von Hermeneutik und Phänomenologie bestimmten Methode, die charakteristisch für Janions Werk ist und auf deren Bedeutung schon mit dem Untertitel der Essaysammlung hingewiesen wird, stehe die Wirkmächtigkeit der „Phantasmen", also der aus der (literarischen) Imagination hervorgebrachten Bilder. (S. 26f, 36). In ihren Studien zeigt Janion immer wieder auf, wie diese das Selbstverständnis einer Gesellschaft prägen können.
Den Beginn der Anthologie macht der namensgebende Aufsatz „Die Polen und ihre Vampire" (S. 35-52) [2] - wie in der Einführung konstatiert einer der Texte, in denen die Autorin ihre phantasmatische Kritik an den „vampirischen Phantasmen" der polnischen Romantik vorführe (S. 26). 1984 erstmals erschienen, steht dieser Text hier auch stellvertretend für das Interesse Janions an der Figur des Blutsaugers, dem sie 2003 sogar eine ganze Monographie widmete.[3] In diesem Beitrag zeigt die Literaturwissenschaftlerin auf, wie der im Volksglauben herumspukende Vampir im 19. Jahrhundert durch „die typisch romantische Umwidmung von Gegenkultur zur offiziellen Kultur" (S. 41) zunehmend künstlerisch stilisiert wurde. Deutlich wird, dass sich hier die Figur des „Vampirs" mit dem vielleicht noch stärkeren Geister- und Gespensterglauben der alten Slawen vermischt - häufig schreibt Janion auch von den „upiory", den Geistern, oder auch von den Untoten. Zudem ist der „Vampirismus" als variiert wiederkehrende Metapher zu lesen. So bezeichnet sie die romantische Literatur selbst als „vampirisch" und erklärt: „Die Werke der Romantiker sollten zum Leben erwachen, sich vom Blut und Leib des Lesers nähren, in dessen Leben und Handeln Gestalt annehmen, ihn anstecken und mit patriotischem Taumel infizieren. Den Leser zum Vampir machen." (S. 47)
Janion argumentiert, dass der Vampir in der polnischen Literatur zum „Doppelgänger" der Menschen und „zur Symbolfigur für die Transgression zum Bösen" wurde (S. 45). Im Fokus der Argumentation steht dabei Adam Mickiewiczs Beschäftigung mit dem Vampirmotiv, besonders die Analyse seiner „Ahnenfeier" („Dziady"), auf die Janion auch in den weiteren Essays mehrmals zurückkommt. Im Kontext des Vampirthemas interpretiert sie den „Vampirgesang" des Protagonisten Konrad aus dem 1832 im Dresdener Exil geschriebenen dritten Teil des Dramenzyklus als phantasmatische „Rachephantasie", die zum Kampf um die Freiheit des Landes aufrufe. Durch diesen Gesang habe der polnische Nationaldichter den Diskussionen über den sanftmütigen Nationalcharakter der Slawen eine rachesüchtige Figur entgegengesetzt. (S. 35f, 48ff).
Janions stets wiederkehrende Auseinandersetzung mit den Diskussionen um den polnischen Nationalcharakter und ihre Vorliebe für das „Unheimliche", das „Andere" und „Fremde", das oft nur im Unbewussten, unter der Oberfläche des nationalen Bewusstseins anwesend ist, zeigt sich auch in den folgenden zwei Essays unter dem Titel „Sich selber fremd" (S. 55-82) und „Polen in Europa" (S. 85-121). Während der Vampir-Text in seiner Komplexität für den in der romantischen Poesie Polens weniger bewanderten Leser an manchen Stellen vielleicht allzu mystisch oder gar kryptisch anmuten kann, zeigt sich erst hier der weite europäische Kontext, den Janion in ihren Texten zieht. So zeichnet sie innerhalb der Analyse der Befindlichkeiten ihres Heimatlandes auch ein historisch fundiertes, europäisches Panorama. Entnommen sind diese Texte ihrer 2007 erschienenen Studie „Niesamowita Słowiańszczyzna" [Das Unheimliche Slawentum] [4], die eine wichtige und mittlerweile schon rezipierte Ergänzung zur deutschsprachigen Erforschung der „slawischen Orientalismen" liefert [5]. In dieser ersten größeren Abhandlung zur polnisch-europäischen Verflechtungsgeschichte und polnischen nationalen Identität aus postkolonialer Perspektive, setzt sich die Autorin mit den neusten Forschungstendenzen auseinander und greift die nach dem Jahr 2000 entflammte innerpolnische Debatte, ob Polen als eine von Russland kolonisierte Nation betrachtet werden könne, auf, die sie in ihrer Analyse mit den Thesen aus Edward Saids berühmter Studie „Orientalism" [6] verbindet.
Dabei charakterisiert Janion Polen hier als ein von tiefen Widersprüchen geprägtes Land, das sich traumatisiert von der gewaltsamen Christianisierung und zerrissen zwischen Ost und West auf der Suche nach seinem Platz in Europa befindet. (S. 85, 97) Sie konstatiert eine paradoxe postkoloniale Mentalität, die sich im 19. Jahrhundert durch die traumatische Erfahrung der Teilungen bei gleichzeitiger Evokation des Traums vom Kolonisieren Anderer entwickelt habe. (S. 90ff) Neben der Auseinandersetzung mit den zahlreichen Diskussionen um die Stellung des Landes und die kulturellen Herkunftsmythen analysiert die Literaturwissenschaftlerin ebenso die komplizierte und ambivalente polnisch-ukrainische Beziehungsgeschichte. (S. 86ff) In ihrer Studie fordert Janion die Selbstkritik der nationalen Eliten und die Befreiung vom Gefühl der Minderwertigkeit gegenüber dem Westen bei gleichzeitig gefühlter kultureller Überlegenheit gegenüber den östlichen Nachbarn. Dabei spricht sie sich auch gegen die Dämonisierung Russlands aus. (S. 105ff) Fern von Essentialismen und damit auch die bis dahin geführten Debatten um Polens postkoloniale Verfassung aus der verengten Perspektive führend, verwendet sie in Hinblick auf das kulturelle Erbe Begriffe wie „Transkulturration, gegenseitige[…] Durchdringung, Hybridität und Uneindeutigkeit". (S. 97).
Deutlich wird hier, dass Janion bemüht ist, den festgefahrenen Vorstellungen innerhalb der tagespolitischen Diskussionen alternative Denkweisen entgegenzusetzten. Ihre Analysen weisen somit oft eine frappierende Aktualität auf und plädieren für die Hinterfragung und Überwindung festgefahrener Muster. Dass diese berühmte Querdenkerin sich dem sonst Marginalisierten, an den Rand Gedrängten widmet und vom dominierenden Diskurs abweichende Positionen zu Tage fördert, zeigen auch die weiteren Essays des Bandes. Zum einen ist hier ihr feinfühliger Text „Krieg und Form" (S. 123-209) zu nennen, den sie 1976 erstmals publizierte und der damit den ältesten Beitrag der Anthologie darstellt [7]. In diesem setzt sich die Autorin mit Miron Białoszewskis literarisch herausragenden Erinnerungen aus dem Warschauer Aufstand und seinem äußerst zivilen, dem romantischen Heldenmythos und dessen herkömmlicher Narrationsstruktur entgegenstehenden Blick auf die totale Zerstörung der polnischen Hauptstadt durch die Deutschen im Sommer 1944 auseinander. Desweiteren offenbaren dies auch die darauffolgenden vier Texte zur polnisch-jüdischen Beziehungsgeschichte, die ihrem jüngstem Buch von 2009 entnommen sind [7] und einen weiteren thematischen Schwerpunkt der Anthologie und damit auch in Janions Gesamtwerk präsentieren.
Hier setzt sich die Autorin u.a. mit dem „Gründungsmythos des polnischen Antisemitismus" (S. 260-314) auseinander: Durch die Auswertung ideengeschichtlicher Schriften und literarischer Werke wie Zygmunt Krasińskis „Ungöttlicher Komödie" thematisiert sie den Diskurs, „der die Juden aus der polnischen Geschichte ausschloss und sie als verschwörerische Feinde Polens darstellte" (S. 243) und versucht mit Bezug auf Slavoj Žižek den „phantasmatischen Kern[...] des Antisemitismus" zu entlarven (S. 281, 283). Gleichzeitig verweist sie aber auch auf die - zwar weniger durchsetzungsfähigen, aber doch vorhandenen - Gegenstimmen: So am Beispiel von „Adam Mickiewiczs jüdische[r] Legion"(S. 318-347), an welchem Janion zeigt, wie der Nationaldichter während des Krimkrieges 1855 in Istanbul eine mit den Polen für Freiheit kämpfende jüdische Einheit zu bilden versuchte. Oder anhand des „jüdischen Obersts" (S. 211-256) Berek Joselewicz, der während des ersten Volksaufstands Polens 1794 im Auftrag des Anführers Tadeusz Kościuszko ein jüdisches Kavallerieregiment aufstellte und dadurch nicht nur Eingang in die polnische Heldenerzählung fand, sondern auch zu einer symbolischen Figur des polnisch-jüdischen Zusammenlebens und zu einem Vorbild für die polnisch-jüdische Doppelidentität wurde. Auch hier hinterfragt die Autorin aber den heroischen Blickwinkel und fordert angesichts des Holocausts, auf dessen Grausamkeit und „Singularität" (S. 244) sie in den Texten immer wieder zusprechen kommt, eine Aufhebung der Unterscheidung zwischen einem „wertvollen" und einem „wertlosen" Tod. (S. 244ff). So ist auch das vorletzte Essay „Die Ironie des Calek Perechodnik" (S. 349-367) der Erfahrung der Shoah durch den jüdischen Ghetto-Polizisten Perechodnik gewidmet, der im Angesichts des Todes in seinem 1943 verfassten Bericht die Vernichtung der Juden durch das NS-Regime ironisch demaskierte..
Die vorgestellten Texte zeigen die Verbindungslinien im (Spät-)Werk Janions auf und ermöglichen einen differenzierten Einblick in ihr facettenreiches Denken und die Aktualität ihres Schaffens. Die von Bernhard Hartmann und Thomas Weiler übersetzten Essays geben dabei den Stil Janions - von Magdalena Marszałek treffend als „zu essayistisch-fragmentarischer Konstruktion neigend" (S. 24) charakterisiert - äußerst gelungen wieder. Mit dem letzten Beitrag der Anthologie „Lebend verlieren wir das Leben" (S. 269-375) [8], das anstelle eines Nachworts Janions Lektüre von Balzacs Roman „Chagrinleder" vermittelt, ist neben den bisher besprochenen Themenschwerpunkten auch noch die Faszination der Autorin für existenzielle Fragestellungen gegeben und ihr Anliegen verdeutlicht „Literatur - auch die polnische, trotz ihrer romantischen Geschichtsobsession - gleichermaßen in Verbindung der Geschichte wie auch der Existenz zu denken." (S. 33) Einzig ein Beispiel aus der in der Biographie Janions doch sehr präsenten Genderthematik wird in der vorliegenden Anthologie vermisst. Mit diesem Arbeitsfeld vermochte die Autorin vor allem in den letzten 25 Jahren wichtige Anregungen für den in Polen erst langsam aufkommenden und im ständigen Konflikt mit der katholischen Kirche stehenden Feminismus zu geben. Hierauf wird zwar in der fundierten Einleitung hingewiesen (S. 24, 25). Wenigstens ein direktes Beispiel hätte den Einblick in Janions sicherlich manchmal auch zu Kontroversen und Gegenpositionen anregendes Denken noch abgerundet.
Auch wenn der Leser hier nicht - wie eventuell durch den medienwirksamen Titel erwartet - eine Kulturgeschichte des Vampirs in Polen in die Hände bekommt, steht folglich endlich auch auf Deutsch eine Autorin zur Verfügung, die mit ihren Texten nicht nur das Verständnis um die nationale Befindlichkeit Polens zu fördern vermag, sondern ihre Betrachtungen immer wieder mit Beispielen aus der europäischenLiteratur- und Geistesgeschichte bereichert. Dies offenbart den implizit transnationalen und interdisziplinären Ansatz Maria Janions, die somit einem fachinteressierten und wissenschaftlichen Publikum über die Grenzen der (slavistischen) Literaturwissenschaft reichende Impulse zu geben vermag.
Inhaltsübersicht
Magdalena Marszałek: Einführung
Die Polen und ihre Vampire
Sich selber fremd
Polen in Europa
Krieg und Form
Der jüdische Oberst
Der Gründungsmythos des polnischen Antisemitismus
Adam Mickiewiczs jüdische Legion
Die Ironie des Calek Perechdonik
Lebend verlieren wir das Leben
[1] Auf einige bisher erschienene Aufsätze Janions in deutscher Sprache ist im Drucknachweis (S. 462, 463) der Anthologie hingewiesen.
[2] Zuerst erschienen in: Twórczość 12/1984, S. 59-70.
[3] Maria Janion, Wampir. Biografia symboliczna,Gdańsk 2003.
[4] Maria Janion, Niesamowita Słowiańszczyzna. Fantazmaty literatury, Kraków 2007.
[5] Vgl beispielhaft zur „slawistischen Orientalismus-Forschung": Wolfgang Stephan Kissel (Hg.), Der Osten des Ostens. Orientalismen in slavischen Kulturen und Literaturen, Frankfurt am Main 2012. Für eine Einordnung Janions innerhalb der polnischen postcolonial-Debatte: Vgl. Alfred Sproede / Mirja Lecke, Der Weg der postcolonial studies nach und in Osteuropa. Polen, Litauen, Russland, in: Dietlind Hüchtker / Alfrun Kliems (Hg.), Überbringen -Überformen- Überblenden. Theorietransfer im 20. Jahrhundert, Köln / Weimar / Wien 2011.
[6] Edward W. Said, Orientalism, London 1978.
[7] In: Maria Janion, Płacz generala. Eseje o wojnie, Warszawa 2007², S. 25-139.
[8] Maria Janion, Bohater, spisek, śmierć. Wykłady żydowskie, Warszawa 2009.
[9] In: Maria Janion, Żyjąc tracimy życie, Warszawa 2001, S. 5-11.