Sammelrezension aller fünf Bände zu den Deutsch-Polnischen Erinnerungsorten: Bd. 1 Geteilt/Gemeinsam, Bd. 2 Geteilt/Gemeinsam, Bd. 3 Parallelen, Bd. 4 Reflexionen, Bd. 5 Erinnerung auf Polnisch.
Mit den neun Bänden (fünf deutsch- und vier polnischsprachigen) der Deutsch-Polnischen Erinnerungsorte liegt seit 2015 das Ergebnis eines der ambitioniertesten deutsch-polnischen Forschungsprojekte der letzten Zeit vor – einer Zeit, die keineswegs arm ist an weiteren, bereits publizierten bzw. sich im Entstehen befindenden wissenschaftlichen Ko-Produktionen im Bereich der Geschichtswissenschaft. Wohl kaum eine andere europäische Beziehungsgeschichte wurde in den vergangenen 15 Jahren akribischer ausgeleuchtet als die deutsch-polnische. Bereits der Umfang der Deutsch-Polnischen Erinnerungsorte (bezieht man die polnische Ausgabe mit ein, kommt man auf 5125 Seiten, an denen über 130 Autor/inn/en und Übersetzer/innen mitgearbeitet haben) verweist auf das dichte personelle, aber auch institutionelle Geflecht, das sich besonders intensiv seit dem politischen Umbruch von 1989, aber durchaus auch bereits in den Jahrzehnten zuvor in der Zusammenarbeit von deutscher und polnischer Historiografie herausgebildet hat.
An einen der wichtigsten Vertreter dieser historiografischen Kooperation, nämlich an Klaus Zernack und seine Beziehungsgeschichte, knüpfen Hans Henning Hahn und Robert Traba als Herausgeber an, wenn sie die Deutsch-Polnischen Erinnerungsorte in ihrer konzisen Einführung als „das erste Werk, das die Erinnerungskulturen zweier Nachbarländer mit ihren Überschneidungen, Verflechtungen und Asymmetrien darstellen will", ankündigen, wobei „materielle Gemeinsamkeiten" ebenso wie die „Polyphonie der Erinnerungsbilder" ihren Niederschlag finden sollen (Bd. 1, S. 11). Im Anschluss an Maurice Halbwachs betonen sie die soziale Bedingtheit jeglicher Erinnerung. Von Pierre Nora übernehmen sie zwar den Begriff des lieu de mémoire, entwickeln diesen jedoch weiter: Nicht eine „Bestandsaufnahme des nationalen memoriellen Erbes" (S. 18) im Sinne Noras interessiert sie, vielmehr betrachten sie „Erinnerungsorte" als „historische Phänomene" (S. 20), deren Gewordensein und Wandelbarkeit in streng historisierender Absicht untersucht werden soll. In Abgrenzung von einer Engführung von Erinnerungsforschung und Konstruktion nationaler bzw. anderer kollektiver Identitäten betonen sie die Prozesshaftigkeit des kollektiven Gedächtnisses bzw. von Identitäten. Daher soll der Fokus der einzelnen Beiträge darauf liegen, Erinnerung(en) zu historisieren und nach der Funktion bzw. der sich wandelnden „Identitätsrelevanz" (S. 20) von Erinnerungsorten zu fragen. Das grundsätzlich Neue an ihrer Herangehensweise sehen sie in der „Begegnung (oder Vermischung) von Zernack und Nora" (ebenda) und im Anschluss an Ersteren in der Betonung der „Beziehungshaftigkeit des Erinnerns" (S. 22). Neben den „geteilten/gemeinsamen Erinnerungsorten" der Bde. 1 und 2, „die in beiden Gesellschaften Relevanz besitzen, jedoch in eine unterschiedliche Erinnerungsgeschichte eingebettet sind" (Bd. 2, S. 11), führen sie als eine innovative Kategorie „parallele Erinnerungsorte" ein, denen Bd. 3 gewidmet ist und bei denen nicht die historische Genese, sondern „eine spezifische Funktion für [den] Identitäts- und Erinnerungshaushalt" (Bd. 3, S. 17) der jeweiligen Gesellschaft im Mittelpunkt steht. Das Panorama, das sich hier in 92 Lemmata entfaltet, ist beeindruckend und belegt nachdrücklich die enge Verflechtung der beiden Gesellschaften.
Alle Beiträge eröffnet eine knappe ereignisgeschichtlich Einführung, an die sich eine Analyse des geteilten/gemeinsamen bzw. der parallelen Erinnerungsorte anschließt. Die zeitliche Dimension erstreckt sich vom Frühmittelalter bis zur Gegenwart, wobei das 19. und vor allem das 20. Jh. ein deutliches Übergewicht haben. Wollte man die dominanten Erzählstränge herausarbeiten, so fallen vor allem in Bd. 1 drei auf: geografische Überkreuzungen, die aus den Teilungen sowie den Neuordnungen im Anschluss an die beiden Weltkriege resultierten; multiple Täter-Opferkonstellationen, die häufig durch zunehmend ethnisierende Vorstellungen gerahmt und dynamisiert, aber etwa auch auf der Ebene dichotomisierender Gegenüberstellungen des jeweiligen Charakters deutscher bzw. polnischer Staatlichkeit plastisch wurden; Spezifika des deutsch-jüdisch-polnischen Beziehungsdreiecks.
Für Bd. 2 fällt eine Konturierung eindeutiger Erzählstränge etwas schwerer. Man könnte von einer Bearbeitung kollektiver Visionen und Neurosen sprechen, wobei bis auf einige Ausnahmen hier deutlich die politischen Konfliktlagen des 19. und 20. Jh. im Mittelpunkt stehen. In Bd. 3 wiederholen sich diese Narrative, nun aber klug inszeniert in deutsch-polnischen Erinnerungspaaren. Im Hinblick auf die Qualität der durchweg gut geschriebenen Beiträge fällt auf, dass vor allem jene überzeugen, die Erinnerungsorte fokussieren, in denen sich deutsche und polnische Geschichte in mehrfacher – erfahrungs- und erinnerungsgeschichtlicher – Weise überkreuzen. So funktioniert die „Vermischung von Zernack und Nora" etwa im Beitrag zu „Kresy/Deutscher Osten" von Christoph Kleßmann und Traba hervorragend, weil diese eben nicht nur (und vielleicht gar nicht so sehr) in ihrer Funktion vergleichbar sind, sondern weil sich durch Verlust- und Vertreibungserfahrung und die jeweiligen gesellschaftlichen Repräsentationen dieser Erfahrungen gerade in den letzten Jahrzehnten ein faszinierendes Wechselspiel von Monologizität und Dialogizität herausgebildet hat. Es lässt seine Wirkungen bis hinein in die neuesten musealen Projekte in beiden Gesellschaften spürbar werden.
Beiträge, die Erinnerungsorte thematisieren, denen diese enge deutsch-polnische Beziehungshaftigkeit nicht eingeschrieben ist, kommen häufig nicht über relativ belanglose rezeptionshistorische Skizzen hinaus, wenn etwa im Fall von „1968" (Bd. 2) klassische und zum Teil von der Forschung bereits revidierte Narrative wiederholt werden. Hier stößt die „Vermischung von Nora und Zernack" an ihre Grenzen bzw. es steht die Frage im Raum, wie man die das Auseinanderklaffen von erfahrungs- und erinnerungsgeschichtlichen Perspektiven dennoch für einen neuen „gesamteuropäischen" Blick auf 1968 fruchtbar machen könnte. Andere Beiträge bahnen mit bewundernswerter Literaturkenntnis und Mut zu starken Thesen den Weg durch Themenfelder mit langen und kontroversen Forschungs-geschichten und hohem Erregungspotenzial in geschichtspolitischen Debatten (etwa Katrin Steffen in ihrem Beitrag zu „Juden" in Bd. 1 oder Markus Krzoska über den „Bromberger Blutsonntag" in Bd. 2). Und schließlich gibt es auch für Sport- oder Medieninteressierte einige wenige originelle Fundstücke zu entdecken: in Bd. 1 zur Friedensfahrt, in Bd. 2 zum Polish Jazz und in Band 3 – der ohnehin am wenigsten „staatstragend" und thematisch am originellsten daherkommt – zu ikonisch gewordenen Fußballspielen in Bern 1954 bzw. Wembley 1973 (nicht 1966!), zu den Kult-Kindersendungen Lolek und Bolek bzw. Sandmännchen und – endlich einmal die beiden Deutschlands nach 1945 gleichermaßen berücksichtigend – zu Käfer, Maluch und Trabi.
Die Bde. 4 „Reflexionen" und 5 „Erinnerung auf Polnisch" betten dieses reiche Panorama auf kluge Weise sowohl synchron als auch diachron in übergreifende Forschungsdiskussionen ein. Bd. 4 ordnet die „Geschichte zweiten Grades" (Nora) in aktuelle historiografische Debatten zu Transnationalität und Verflechtungsgeschichte sowie weiteren zeitgenössischen Varianten der Erinnerungsforschung ein und fragt nach dem Stellenwert der Gedächtnisforschung in Disziplinen jenseits der Geschichtswissenschaft. Damit wird eine umsichtige Platzierung des Großprojekts in zeitgenössischen Theoriedebatten vorgenommen und seine Einbettung in größere europäische Zusammenhänge sowie seine disziplinäre Offenheit unterstrichen. Noch lesenswerter ist Bd. 5, der dem in der Einleitung von den Herausgebern formulierten „Paritätsprinzip" (S. 44) verpflichtet ist und dem deutschen Publikum die zum Teil bahnbrechenden Forschungen vor allem der polnischen Soziologie und Kulturanthropologie zur Erinnerungs- und Identitätsforschung in einer klugen Auswahl vorstellt und oft erstmals überhaupt in deutscher Sprache zugänglich macht. In einem überaus instruktiven Gespräch entfalten die Herausgeber dieses Bandes, Peter Oliver Loew und Traba, eine Genealogie polnischer Erinnerungsforschung, die mit Stefan Czarnowski, einem Kultursoziologen und Durkheim-Schüler, bereits vor dem Ersten Weltkrieg ihren Ausgang nahm. Auch in der Zweiten Republik, interessanterweise aber vor allem auch in der Volksrepublik Polen entwickelten polnische Forscher/innen innovative Zugänge zu Fragen der Anwesenheit der Vergangenheit in der Gegenwart (Czarnowski oder Nina Assorodobraj) und zur Herausbildung häufig regionaler oder schichtenspezifischer Formen des Geschichtsbewusstseins (Stanisław Ossowski oder Barbara Szacka). Hier wird nachdrücklich deutlich gemacht, welche wissenschaftshistorischen Traditionen es (wieder) zu entdecken gilt und welchen Beitrag die weltläufige polnische Forschung (man denke nur an den intensiven Austausch polnischer Historiker mit der französischen Annales-Schule) auch unter den schwierigen Rahmenbedingungen während der volkspolnischen Zeit lieferte. Mit der Zusammenstellung dieser Texte gelingt den Herausgebern auf musterhafte Weise die Verknüpfung von regionsbezogenen Forschungen (area studies) mit den daraus entwickelten übergeordneten Forschungsparadigmen, die aufgrund der Sprachbarriere – aber auch aufgrund der Vernachlässigung der genannten Autoren zugunsten westlichen Theorieimports in Polen vor allem seit den 1990er Jahren – heute nicht nur in Westeuropa nahezu unbekannt sind. Eher in die Niederungen der Erinnerungspraxis führt dann der zweite Teil des Bandes, der die aktuellen erinnerungspolitischen Streitthemen seit 1989 in Polen fokussiert.
Es sind diese Niederungen aktueller Geschichtspolitik, die dem Gesamtwerk doch (allzu) stark ihren Stempel aufgedrückt haben. Die von den Herausgebern diagnostizierten „Erinnerungsdominanten" (Bd. 1, S. 34) in beiden Gesellschaften werden mit einer Aufzählung plastisch gemacht, die fast ausschließlich auf den Zweiten Weltkrieg, dessen Folgen bzw. auf die Frage der Aufarbeitung der kommunistischen Herrschaft fokussiert ist. Sicher, die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und dem Kommunismus und vor allem der äußerst sensible Bereich der Konfrontation multipler Opfererinnerungen nahmen und nehmen einen prominenten Platz im öffentlichen Reden über Geschichte in den beiden Gesellschaften ein. Doch gerade wenn man das von den Herausgebern überzeugend vorgetragene Plädoyer für die soziale Bedingtheit und die historische Wandelbarkeit der als „historische Phänomene" verstandenen Erinnerungsorte ernst nimmt, stellt sich die Frage, ob die ausgewählten Lemmata nicht doch in die Nähe der Noraschen „Bestandsaufnahme des memoriellen nationalen Erbes" rücken – und zwar nicht, weil man den Autor/in/en national verengte Sichtweisen vorwerfen könnte, sondern weil sie – und das belegen auch die umfangreichen Bibliografien, die die einzelnen Beiträge begleiten – im Prinzip klassische Erinnerungstopoi kundig nacherzählen.
So stark viele der Beiträge bei der Nachzeichnung komplexer Erinnerungsgeschichten sind, so sehr werden Zweifel geweckt, inwieweit tatsächlich immer die „identitätsrelevante Präsenz der Vergangenheit in der Gegenwart" (Bd. 3, S. 13) erfasst wird, auch wenn es dezidiert nicht um den aktuellen Zustand von Erinnerungskulturen gehen soll, sondern auch „verschwundene Traditionen und jüngste Ereignisse auf gleicher Ebene" (Bd. 4, S. 9) in den Blick genommen werden. Das hat sicherlich auch etwas mit dem materiellen Charakter des vorliegenden Werkes zu tun, das in soliden Hardcover-Bänden zu einem stolzen Preis daherkommt und damit schon ein wenig von der Aura kanonisierten Wissens umgeben ist. Zwar ist bereits eine preiswerte Best-of-Ausgabe für schuldidaktische Zwecke geplant, doch stellt sich die Frage, ob sich das Nachdenken über Erinnerungsorte nicht in besonderer Weise für eine (interaktive) Online-Version anbieten würde, denn viele der bearbeiteten Erinnerungsorte werden immer wieder neu aktiviert und umgedeutet. Hahn und Traba pflegen jedoch eine etwas kulturpessimistischen anmutende Einstellung gegenüber den „Massenmedien" (und damit dürften sicher auch die digitalen Medien gemeint sein), denen sie einerseits bei der Produktion von Erinnerungsorten die Nachhaltigkeit absprechen (Bd. 1, S. 42), andererseits hingegen vorwerfen, dass Erinnerungskulturen „unter den Einfluss immer übermächtiger sich gebärdender Medien" (S. 35) geraten, die das Meinungsbild der Gesellschaft nicht nur wiedergeben, sondern sogar beanspruchen, dieses zu bilden. In der Tat, das tun sie – genauso wie die Geschichtswissenschaft Geschichte in der Rekonstruktion immer wieder neu erzählt und herstellt. Denkt man an Seminardiskussionen mit Studierenden über erinnerungskulturelle Phänomene, wird man an der Erkenntnis, dass die neuen Medien Geschichtsproduzenten sind, nicht vorbeikommen, ob einem das gefällt oder nicht. So gesehen wird die in der Einführung thematisierte Heterogenität von Erinnerungsgemeinschaften in den Beiträgen kaum einmal tatsächlich durchdekliniert. Generationeller Wandel bleibt ebenso unterbelichtet wie die Kategorie Geschlecht, die eigentlich nur in den explizit „weibliche" Erinnerungsorte fokussierenden Beiträgen zur sagenhaften Königin Wanda und zum parallelen Erinnerungsort von „Kinder, Küche, Kirche" und der „schönen Polin" aufscheint.
Ein schönes Beispiel für Wandel und Aktualisierung von Erinnerungsorten ist etwa das Lemma „Targowica", das im Band „Parallelen" mit der „Dolchstoßlegende" zusammengebunden wurde. Während Letztere nur noch im kulturellen Gedächtnis funktioniert, erweist sich Targowica als quicklebendig und vielfältig einsetzbar, vor allem in dem geschichtspolitisch aufgeheizten Klima der „Vierten Republik". Nicht nur dass die Regierungspartei „Recht und Gerechtigkeit" (Prawo i Sprawiedliwość, PiS) ihre politischen Gegner, die ihr Programm patriotischer Geschichtspolitik kritisch betrachten, des Verrats an den Idealen der Konföderation von Targowica zeiht; auch Akteure des eher linksliberalen Meinungsspektrums nutzen Targowica als Bedeutungsträger, wenn etwa die Autor/inn/en einer Unterschriftensammlung, die sich gegen die Verunglimpfung von Historiker/inne/n durch einen der PiS nahestehenden Fachkollegen wendet, diese ironisch als „Liste der Targowicer und Volksdeutschen" [1] bezeichnen und damit mit der Verrats-Paranoia des nationalkonservativen Lagers spielen. Vor dem Hintergrund der geschilderten beträchtlichen Forschungsleistungen der beiden Historiografien mag einem aber vielleicht doch das Lachen im Halse stecken bleiben, schaut man auf die massive Rückkehr national engführender oder bereits tot geglaubter totalitarismustheoretischer Paradigmen, die zumindest in den geschichtspolitischen offiziellen Verlautbarungen in Polen seit dem Regierungsantritt der Nationalkonservativen sowie in Teilen der Presse zu verzeichnen sind. [2] Vielleicht hätte man die letzten Jahre intensiver nutzen sollen, die deutsch-polnische Beziehungsgeschichte noch stärker zu entbilateralisieren, und man hätte sie wohl auch in größere europäische sowie globalgeschichtliche Zusammenhänge integrieren und sie auch noch weiter methodischen und geschichtstheoretischen Neuerungen öffnen müssen, um eine solche Repolitisierung von Historiografie nachhaltig ins Leere laufen zu lassen.
[1] „Lista targowiczan i folksdojczów". Historycy bronią dobrego imienia kolegów badających stosunki polsko-niemieckie [„Liste der Targowica-Verschwörer und Volksdeutschen". Historiker verteidigen den guten Namen von Kollegen, die die deutsch-polnischen Beziehungen erforschen], in: Gazeta Wyborcza vom 12.02.2016.
[2] Siehe dazu zuletzt Magdalena Saryusz-Wolska, Sabine Stach, Katrin Stoll: Verordnete Geschichte. Zur Dominanz nationalistischer Narrative in Polen, URL: http://www.zeitgeschichte-online.de/thema/verordne... (31.01.2017).
Diese Rezension erschien zuerst in der Zeitschrift für Osteuropaforschung 66 (2017), H. 1.