In den Augen seiner Zeitgenossen war Richard Wagner, ebenso wie in seinem eigenen Selbstverständnis, längst nicht nur Komponist. Dass in die Rezeption seiner Musik immer auch andere Faktoren, ästhetische und politische, mit hineinspielten, was die Gemengelage für die Rezeptionsforschung so komplex macht, ist vor diesem Hintergrund nicht verwunderlich. Verwunderlicher wäre im Gegenteil, wenn dies nicht so wäre, wenn sich die Dinge klar trennen ließen. Deswegen fragt der US-amerikanische Musikwissenschaftler Richard Taruskin: Sind Musikwissenschaftler mit ihren bewährten Methoden im Gepäck der Erforschung der Wagner-Rezeption überhaupt gewachsen? (S. xv)
Taruskin geht noch weiter und formuliert folgendes Paradoxon: Diejenigen, die ohne musikalische Ausbildung primär den Dramatiker Wagner, den Schriftsteller oder Philosophen zu verstehen suchten, waren unwillkürlich von Wagners Musik beeinflusst. Ihr ‚Gefühlsverstehen' der Musik sei dabei adäquater als der rein technische Zugang der Tonsetzer, die den Komplexitäten in den Partituren oft nur mit Ratlosigkeit begegneten.
Ein Forscherteam rund um die in Leeds ansässigen Herausgeber Stephen Muir und Anastasia Belina-Johnson hat sich davon nicht abschrecken lassen und einen Band zur Wagner-Rezeption in Russland, Polen und Böhmen vorgelegt. Ein Vierteljahrhundert nachdem sich der Eiserne Vorhang gehoben hat, sind sie ein wichtiges Thema angegangen, das – so speziell es zunächst erscheint – den Blick auf Verbindungen zwischen Ost und West lenkt, wie sie einst selbstverständlich waren. Trotz des Umfangs, den die Wagner-Forschung angenommen hat, konnten sie bei ihrem konkreten Vorhaben auf nur wenige Vorarbeiten aufbauen; zu nennen wäre die Arbeit von Hannu Salmi von 2005, in der er in derselben Hinsicht den Ostsee-Raum untersucht hat. [1]
Die acht Kapitel sind nichts anderes als acht Fallstudien, verfasst von verschiedenen Autoren. Vier beschäftigen sich auf knapp der Hälfte des 200 Seiten dünnen Bandes mit der Rezeption in Russland, je zwei mit Polen und Tschechien. Die Autoren sind ausgewiesene Spezialisten, wie Jan Smaczny für die tschechische Musik. Richard Taruskin, der für das Vorwort gewonnen werden konnte, ist seines Zeichens emeritierter Professor der Musikwissenschaft in Berkeley und Autor der als monumental gepriesenen Oxford History of Western Music. Bereits in dieser hat er sich weniger als Formulierungskünstler gezeigt, denn vielmehr mit mutigen Thesen provoziert. Sein Vergleich des IV. Satzes aus Antonín Dvořáks Sinfonie „Aus der neuen Welt" mit dem III. Akt von Wagners Götterdämmerung hinkt ganz offensichtlich, nichtsdestotrotz ist er ungemein anregend, was Überlegungen zur Leitmotivtechnik in der Sinfonik, das Phänomen der Reminiszenz und daher Rezeption insgesamt angeht.
Der Rezeptionsbegriff der Publikation umfasst sowohl Reaktionen musikalischer Art, die mit zahlreichen Notenausschnitten belegt werden, als auch Äußerungen und Meinungen über Wagner, die vornehmlich in Briefen von Komponisten oder in Zeugnissen ihres Umfelds dokumentiert sind. Unter den angeführten Zitaten findet man einige mit Unterhaltungswert wie die Äußerung Rimskij-Korsakovs: „[…] I'll tell you what I dislike mainly about Wagner […] That's 'Wagnerism'." (S. 36)
Es wird vorbildlich nah an den Quellen gearbeitet, die dankenswerter Weise überwiegend auch in Originalsprache und ‑orthographie abgedruckt sind. Da es sich zu großen Teilen um Dinge handelt, die nicht jedem Leser einfach zugänglich sind, wünscht man sich einen umfangreichen Anhang oder einen zweiten Band mit mehr Quellenmaterial, das hier trotz allem nur sehr ausschnittsweise präsentiert wird. Das Vorgehen ist größtenteils chronologisch von der zeitgenössischen Rezeption bis zur Nachwelt, was sinnvoll ist, da die Wandlungen, die das Wagner-Bild beispielsweise durch die Russische Revolution erfahren hat, auf der Hand liegen. Außerdem schreitet der Band von Wagners Umfeld, das noch stärker unter dem Eindruck von Wagners Persönlichkeit stand, zu weiteren Kreisen und Generationen der Nachgeborenen fort.
Es wird häufig vergessen, dass Riga in der Zeit, als es Wirkungsort des jungen Wagner war, bereits russischer Verwaltung unterstand. Entscheidende Impulse für die russische Wagner-Rezeption gingen aber erst von der Petersburg- und Moskau-Reise des Komponisten 1863 aus. Dies war ein Wendepunkt für manch einen, der Wagner als Dirigenten erlebte. In manchen Fällen bedurfte es einer lebenslangen Beschäftigung mit Wagner, um eine einmal angenommene Einstellung ihm gegenüber zu revidieren. So ging es Nikolaj Rimskij-Korsakov oder Sergej Taneev, während sie Wagner anfänglich nur sehr punktuell rezipiert hatten (Kapitel 1 und 2).
Bei den tschechischen Komponisten, von denen Antonín Dvořák und Leoš Janáček in den Kapiteln 5 und 6 eingehender behandelt werden, ist es geradezu umgekehrt. Erst die Abkehr von Wagnerschen Modellen, welche beide in jungen Jahren so gut kannten, dass es sie beinahe zu Epigonen machte, ermöglichte ihren Durchbruch als Komponisten. So war es auch eine glückliche Entscheidung, als Zdenko Fibich in der Oper Šárka seine Version eines Walkürenritts strich.
In Polen war Stanisław Wyspiański als Vorkämpfer der Młoda Polska-Bewegung eine ähnlich schillernde Figur wie Wagner. Für Wyspiański verhieß Wagners Werk vor allem die Sprengung bestehender Gattungshierarchien. Da er, anders als Wagner, kein Musiker war, ist die Ebene der Rezeption abstrakter als in den vorangegangenen Beiträgen („indeed, compiling any register of interdependencies would contribute very little to the debate", S. 148). Der Autor des Beitrags Radosław Okulicz-Kozaryn verfolgt also einen ähnlichen Weg wie Carl Dahlhaus in seinem so problematischen wie einflussreichen Aufsatz über den Jugendstil. Dahlhaus erklärte darin Wagner zum Ahnherrn des Jugendstils, wobei er sich allein auf die Figur des ‚festgebannten Strömens' konzentrierte. [2]
Okulicz-Kozaryn beschreibt, dass Wagners Gattungssynkretismus in Polen auf fruchtbaren Boden fiel, wo er vor allem durch Juliusz Słowackis Dichtung Król-Duch bereitet war. Wichtig für die Vermittlung waren außerdem die Schriften Friedrich Nietzsches – und das auch als der Bruch des Philosophen mit dem Musikdramatiker bereits bekannt war.
Mit dem abschließenden Beitrag von Magdalena Dziadek, in dem sie die Wagner-Rezeption bis zum Jahr 1989 verfolgt, wird der Band abgerundet. Dass nach den deutschen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg Wagner in Polen zu einem heiklen Fall wurde, liegt auf der Hand. Nach einer Zeit der überwiegend latenten Rezeption markierte das Jubiläumsjahr 1963 einen Umbruch.
Im Idealfall kann der fremde Blick neue Erkenntnisse über das Eigene hervorbringen. So geschieht es hier mit oder durch den ‚russischen Wagner'. Für die russische Diskussion haben sich zwei Werke als zentral erwiesen: zum einen der Ring des Nibelungen, oder konkreter der primär als Kapitalismuskritik verstandene Siegfried, zum anderen Parsifal, dessen tiefe religiöse Verwurzelung den Rezipienten – die darin Wagners ‚russischstes' Werk sehen – in ihrem Selbstverständnis entgegenkam. In seinem Konzept des Gesamtkunstwerks vermeinte man einen ‚sozialistischen Wagner' zu erkennen. Bei allen Aufladungen und Überhöhungen, die der Begriff ‚Gesamtkunstwerk' im Laufe der Zeit erfahren hat, verwundert das zunächst sicher. Hier weist wiederum Taruskin nach, dass dies durchaus den Quellen entspricht, denn Wagner definierte es „nicht als die willkürliche mögliche That des Einzelnen", sondern in erster Linie als das „gemeinsame Werk". [3]
Fragen des Kulturtransfers sind im Band natürlich vorhanden, doch meist nur implizit auf der Ebene der Fakten; expliziert oder gar problematisiert werden sie nicht. Vielleicht liegt das daran, dass, global betrachtet, die nationalen Schulen des 19. Jahrhunderts – ihrer eigenen Rhetorik zum Trotz – doch eine gemeinsame europäische Musiksprache sprachen, was einen individuellen Tonfall einzelner Stimmen nicht ausschließt. Die Voraussetzungen dafür, wie man im Deutschland oder Russland des ausgehenden 19. Jahrhunderts einen Notentext las, waren exakt dieselben.
Die Herausgeber waren sichtlich um Vereinheitlichung bemüht, trotzdem fehlt ein übergreifender großer Bogen, den allenfalls das Vorwort von Richard Taruskin spannt. Ansonsten werden kaum Aussagen getroffen, die über den Einzelfall hinaus Gültigkeit besitzen. So entsteht beim Lesen mehr der Eindruck einer Vortragssammlung als eines Handbuchs. Das letzte Wort in der Diskussion ist deswegen noch nicht gesprochen, vielmehr wird es das Verdienst dieses Bandes sein, zur weiteren Diskussion angeregt zu haben. Und auch wenn es mehr den Odem des Archivs als den einer inspirierten Kulturwissenschaft verströmt, so leistet das Buch doch wichtige Pionierarbeit.
[1] Hannu Salmi: Wagner and Wagnerism in Nineteenth-Century Sweden, Finland, and the Baltic Provinces, Rochester 2005. Des Weiteren: Luca Sala (Hg.): The Legacy of Richard Wagner, Turnhout 2012.
[2] Carl Dahlhaus: Musik und Jugendstil, in: Art Nouveau, Jugendstil und Musik, Hg. Jürg Stenzl u.a., Zürich 1980. S. 73-88.
[3] Richard Wagner: Gesammelte Schriften und Dichtungen, Bd. 3, S. 74, o.O., o.J. zitiert nach S. xix des vorliegenden Bandes.