Innerhalb der zweiundvierzig Jahre ihrer Existenz (1948-1990) hatte die in der Volksrepublik Polen de facto alleinregierende Polnische Vereinigte Arbeiterpartei (PZPR) insgesamt fast vier Millionen Mitglieder. Die Partei mit ihrer Nomenklatur war bemüht alle wichtigen gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Bereiche des Lebens im Staatssozialismus zu kontrollieren und zu steuern. Umso erstaunlicher ist es, dass es bis heute keine wissenschaftliche Monographie über die PZPR gibt.
Der vorliegende Sammelband füllt diese Lücke insofern, als er den aktuellsten Forschungsstand über die PZPR präsentiert.[1] Sechszehn renommierte polnische ZeithistorikerInnen fassen ihre langjährigen Forschungen zusammen und stellen in fünfzehn Artikeln die Partei als eine „Herrschaftsmaschine" vor.
Vier beschäftigen sich mit der Parteigeschichte aus biographischer Perspektive. Jerzy Eisler fasst bisherige Forschungen zu den Ersten Sekretären der Partei zusammen und bemerkt, dass ihre Lebensgeschichten sowie die Wechselwirkungen zwischen persönlichen Charakterzügen und der Art der Partei- und Staatsführung immer noch unzureichend beleuchtet bleiben. Andrzej Friszke und Leszek Gilejko befassen sich jeweils mit den in den Parteikomitees angestellten MitarbeiterInnen sowie mit „gewöhnlichen" Parteimitgliedern. Sie widmen sich dabei vor allem statistischen Daten über soziale und politische Herkunft, Bildung, Alter und Geschlecht, während eine weitergehende Interpretation der Daten nur kurz skizziert wird. Bożena Szaynok konzentriert sich auf die Problematik der jüdischen Mitglieder der PZPR und erinnert an eine vergessene Tatsache, dass die Kommunisten seit 1944 verschiedene jüdische Organisationen und Parteien zugelassen haben, während dies den anderen religiösen und ethnischen Minderheiten nicht erlaubt worden sei (S. 316). Spätestens seit dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen zu Israel 1967 wurde der Antisemitismus in der Partei nicht nur offensichtlich, sondern auch zugelassen und beispielsweise in Form von der Patriotischen Vereinigung „Grunwald" offiziell sanktioniert.
Zum wichtigsten Mechanismus der Kaderpolitik gehörte die Nomenklatura, die Maciej Tymiński in den Blick nimmt. Er stellt fest, dass auf der lokalen Ebene die Anweisungen der oberen Parteiinstanzen ignoriert wurden, und stattdessen eigene Nomenklaturen entstanden seien, die sich nach Parteizugehörigkeit, aber auch nach beruflichen Kompetenzen und privaten Freundschaften gerichtet hätten. Die lokalen Nomenklaturen seien im Tausch für ihre Loyalität gegenüber dem Parteizentrum geduldet worden.
Interessante Einblicke in die Tätigkeiten der „Zentralen Kommission für Parteikontrolle" gibt Piotr Osęka. Die Berufung der Kommission sollte demokratische Prozeduren imitieren und den Eindruck erwecken, dass die Herrschaft der gesellschaftlichen Kontrolle unterläge. (S. 76) Mit der Zeit habe die Kommission jedoch an Bedeutung verloren – zugunsten des Innenministeriums, das zum inoffiziellen Wächter der Parteidisziplin wurde. (S. 98) Das Innenministerium und besonders der Sicherheitsdienst hatten – so Andrzej Paczkowski – in den tatsächlichen Machtverhältnissen eine starke Position, die manche Autoren sogar zu der These veranlasst, der Sicherheitsapparat habe mit den zentralen Parteistrukturen um die Macht konkurriert. (S. 170) Paczkowski selbst geht nicht so weit, betont aber, dass die Forschung über den Sicherheitsdienst nach 1956 noch bedeutende Lücken aufweise.
Vier Autoren gehen der Frage nach, ob sich die Verhältnisse zwischen der Partei und den ihr unterliegenden politischen und gesellschaftlichen Organisationen nur als einseitiger Zwang beschreiben lassen. Janusz Wrona beschäftigt sich mit den Satelliten-Parteien der PZPR: der Vereinigten Volkspartei (Zjednoczone Stronnictwo Ludowe) und der Demokratischen Partei (Stronnictwo Demokratyczne). Trotz klarer Abhängigkeit von der PZPR hätten sie den innerparteilichen Dialograum erweitert (S. 151), seien jedoch nie stark genug geworden, um Systemveränderungen anzustoßen. Auch am Beispiel der Erziehungs-, Bildung- und Steuerungsmaßnahmen der Partei gegenüber der Jugend, die Marek Wierzbicki anführt, wird deutlich, dass die Verhältnisse auf vielen verschiedenen Ebenen differenzierter gesehen werden sollten.
Die Erforschung der Massenorganisationen für Erwachsene bildet in Polen immer noch ein Forschungsdesiderat. Umso erfreulicher ist der Versuch von Joanna Wawrzyniak, am Beispiel der Kriegsveteranenvereinigung (ZBoWiD) nicht nur die Geschichtspolitik der Partei zu schildern, sondern auch mithilfe des Korporativismus-Ansatzes zu zeigen, dass die Massenorganisationen nicht nur die Gesellschaft kontrollierten, sondern auch die Entstehung und Verwirklichung von Gruppeninteressen förderten. (S. 230)
Aufgrund der nahezu vollständigen Kontrolle der Partei über Wirtschaft, die Janusz Kaliński leider nur sehr kurz darstellt, waren auch die Gewerkschaften von der Partei abhängig. Die immer wiederkehrenden Arbeiterproteste hätten laut Jędrzej Chumiński einerseits gezeigt, dass die Arbeiter im „Arbeiterstaat" keine wirksame Repräsentation hatten, andererseits könne auch in diesem Fall nicht von einem einseitig ausgeübten Zwang die Rede sein. Zu ähnlichen Schlussfolgerungen kommen auch Patryk Pleskot und Tadeusz Paweł Rutkowski. Sie befassen sich mit dem politischen und ideologischen Druck, den die Partei auf die Wissenschaft ausübte. Am Beispiel der Besetzungsverfahren von Entscheidungsgremien der Polnischen Akademie der Wissenschaften zeigen die Autoren, dass der ideologische Einfluss der Partei auf die Wissenschaftler und die Forschung seit 1956 langsam nachgelassen habe, obwohl paradoxerweise die Zahl der Mitglieder der Partei unter Wissenschaftlern kontinuierlich gewachsen sei (S. 313).[3]
Die Ansprüche der Partei, die Gesellschaft vollständig zu kontrollieren, scheiterten womöglich auch, weil die PZPR kaum Geld in die ideologische Arbeit und politische Disziplinierung der eigenen Reihen investierte. Dariusz Stola erläutert anhand der reichhaltigen und gut erhaltenen Finanzberichte der Partei die bisher in der Forschung unterschätzten Mechanismen der Parteifinanzierung und zeigt die Zusammenhänge zwischen internen finanziellen Problemen der Partei und Veränderungen ihrer Politik. Laut Stola gebe es keine Beweise dafür, dass die finanziellen Angelegenheiten der polnischen Partei mit Moskau abgesprochen wären (S. 52).
Dass sich die Kompetenzen und Tätigkeitsbereiche des Partei- und Staatsapparats ständig überschnitten, zeigt Wanda Jarząbek am Beispiel der Außenpolitik. Nach anfänglichen Reibereien habe es sich eingebürgert, dass das Außenministerium für Kontakte mit dem Westen, und die Außenabteilung des Zentralkomitees für Kontakte mit dem Ostblock verantwortlich waren.
Die Betonung der Zäsur des Jahres 1956, in dem das gesamte System „liberalisiert" worden sei, ist allen Aufsätzen gemeinsam. Aus den im Band vorgestellten reichen Archivalien ergeben sich zwei hauptsächliche Beobachtungen. Erstens, die Quellenlage zur Parteigeschichte scheint sehr gut und keineswegs so verfälscht zu sein, wie oft angenommen. Zweitens, das Bild der alles beherrschenden brutalen Parteistrukturen wird an mehreren Stellen relativiert. Der Band versammelt mithin jene polnischen HistorikerInnen, die den Totalitarismusbegriff nicht als Bezeichnung für die ganze Periode 1944/45-1989 verwenden. In keinem der Beiträge wird jedoch das Argument der ehemals in den zentralen Parteiorganen Tätigen aufgegriffen, es habe nach 1956 in der Partei eine starke Auseinandersetzung zwischen Parteireformern und Dogmatikern gegeben.[2] Ebenso vermisst man Informationen zu Mechanismen der Beeinflussung der PZPR durch Moskau oder zum Verhältnis der PZPR zu anderen Parteien des Ostblocks.[4] Die Autoren weisen auf weitere Forschungsdesiderate hin, wie die Biographistik oder das Funktionieren der Parteimaschinerie auf der lokalen Ebene.
Alle Aufsätze folgen den Ansätzen der klassischen Politikgeschichte. Sehr ausführlich werden Institutionen und ihre organisatorischen sowie personellen Veränderungen innerhalb der „Herrschaftsmaschine" aufgelistet[5]. Innovative Fragestellungen oder neue methodische Zugänge werden dagegen kaum angeschnitten. Das Buch kann daher vor allem Studenten und Einsteigern empfohlen werden, die sich über ganz konkrete Bereiche der Herrschaft der PZPR informieren möchten.
[1] Es sei auch hingewiesen auf: Dariusz Magier (red.), Partia komunistyczna w Polsce. Struktura, ludzie, dokumentacja. Lublin 2012.
[2] Siehe dazu: Mieczysław F. Rakowski (red.), Polska pod rządami PZPR. Warszawa 2000.
[3] Die Autoren gehen dabei nicht auf die in diesem Kontext ebenso wichtige Problematik der Zensur ein – einen Überblick über die polnischsprachige Literatur dazu gibt: Maciej Górny: Rezension zu: Romek, Zbigniew: Cenzura a nauka historyczna w Polsce 1944–1970 [Zensur und Geschichtswissenschaft in Polen 1944-1970]. Warszawa 2010, in: H-Soz-u-Kult, 27.01.2012.
[4] Interessierte Leser seien vor allem auf drei Monographien von Andrzej Skrzypek: Mechanizmy uzależnienia. Stosunki polsko-radzieckie 1944-1957. Pułtusk 2002; Mechanizmy autonomii. Stosunki polsko-radzieckie 1956-1965. Pułtusk 2005; Mechanizmy klientelizmu. Stosunki polsko-radzieckie 1965-1989. Pułtusk 2008 hingewiesen.
[5] Empfehlenswert für deutschsprachige Leser in diesem Kontext ist immer noch: Siegfried Lammich, Regierung und Verwaltung in Polen. Köln 1975.